Der Trakt
Taufe, … das – Verstehen Sie, ich erinnere mich an jeden Moment seines Lebens. Ich bilde mir doch mein eigenes Kind nicht ein, verdammt nochmal! Ich weiß nicht, was mit mir passiert ist, aber mein Junge, der kann doch nichts dafür. Bitte, helfen Sie mir doch.«
»Sie stehen unter dem Verdacht, etwas mit dem Verschwinden von Frau Aurich zu tun zu haben«, erklärte Grohe mit teilnahmsloser Stimme. »Wir werden jetzt zuerst zum Präsidium fahren und Ihre Aussage aufnehmen. Danach sehen wir weiter.«
»Natürlich habe ich etwas mit dem Verschwinden zu tun!«, brauste Sibylle auf, »weil ich die Sibylle Aurich bin, die verschwunden ist. Oh Gott, das ist doch total verrückt.«
Mit tiefem Schnaufen wandte Grohe sich ab und sah wieder nach vorne. Nach einer Weile warf Wittschorek ihm einen Blick zu und sagte: »Was spricht dagegen, dem Krankenhaus einen kurzen Besuch abzustatten? Dann haben wir zumindest in diesem Punkt Klarheit. Das kann uns eine Menge Zeit sparen.«
Grohe antwortete zuerst nicht darauf. Dann drehte er sich nochmals zu ihr um. »Also gut. Aber während wir dorthin fahren, erzählen Sie uns in allen Einzelheiten, was man in diesem Krankenhaus angeblich mit Ihnen gemacht hat.«
Sibylle nickte eifrig, begann ihre Schilderung mit dem Traum und endete zehn Minuten später mit dem Moment, in dem sie vor ihrem Haus angekommen war, als Wittschorek den Zündschlüssel umdrehte und der Motor erstarb. Sibylle hatte in allen Einzelheiten ihre Erlebnisse dieses Tages erzählt, aus einem unbestimmten Gefühl heraus aber Rosies Namen verschwiegen. Nun sah sie durch die Seitenscheibe nach draußen und erkannte das Krankenhaus.
»Also gut, dann lassen Sie uns mal nachsehen, was es mit diesem Kellerraum auf sich hat.« Wittschorek zwinkerte ihr aufmunternd zu, und Sibylle war ihm dankbar dafür.
Sie wollte aussteigen, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Grohe öffnete ihr die Tür von außen und sagte: »Ich bin schon sehr gespannt auf das furchtbare Verlies, in das man Sie eingeschlossen hat.«
Am Informationsschalter in der Eingangshalle des Krankenhauses lächelte ihnen eine junge, pausbäckige Frau mit dunklem Pagenkopf hinter einem U-förmigen Tresen freundlich entgegen. Der dünne Bügel eines Headsets ragte seitlich an ihrer Wange vorbei bis vor den Mund.
Grohe zog seinen Ausweis aus der Gesäßtasche und hielt ihn der Frau entgegen. »Oberkommissar Oliver Grohe, Kriminalpolizei. Wir möchten einen Dr. Muhlhaus sprechen.«
Das unverbindliche Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht und machte einem dienstbeflissenen Ausdruck Platz. Während sie auf der riesigen Telefonanlage vor sich eine Nummer wählte, sagte sie: »Ich muss nachhören, ob er im Hause ist. Worum geht es bitte?«
»Das geht Sie nichts an«, antwortete Grohe, woraufhin sie beleidigt auf die Tastatur vor sich starrte. Nach einem kurzen Telefonat sagte sie: »Herr Dr. Muhlhaus wird in wenigen Minuten hier sein. Sie können so lange da vorne Platz nehmen.«
Grohe wandte sich wortlos ab und ging auf die Gruppe orangefarbener Plastikstühle in der Mitte der Halle zu. Wittschorek lächelte die Frau an und bedankte sich, was sie offensichtlich wieder etwas milder stimmte, denn sie lächelte zurück.
Sibylle schaffte es nicht, ruhig zu bleiben. Mit jeder Minute, die verging, wurde ihre Nervosität größer. Sie war gespannt, wie dieser Muhlhaus reagieren würde, wenn sie plötzlich wieder vor ihm stand. Er musste eine anständige Beule davongetragen haben.
Als sie zum wiederholten Male nach ihm Ausschau hielt, fiel ihr ein Mann mit dunklen, an den Seiten bis über die Ohren reichenden Haaren auf, der neben dem kleinen Krankenhauskiosk an der Wand lehnte und sie unentwegt anstarrte. Er mochte Mitte dreißig sein, hatte eine sportliche Figur und trug eine helle Baumwollhose und ein weißes T-Shirt. Als sie ihn nun direkt ansah, hielt er ihrem Blick stand. Wenn sie es auf die Entfernung richtig deutete, lag in seinen Augen so etwas wie Mitgefühl oder Mitleid.
Meint der mich? Kenne ich den oder müsste ich ihn kennen?
Sibylles Puls ging schneller. Sie sah zu Wittschorek herüber, der zwei Stühle neben ihr saß, und wollte ihn auf den Mann aufmerksam machen, doch der deutete mit dem Kopf zum Informationsschalter. Dort unterhielt sich ein großer, etwas fülliger Mann im weißen Kittel mit der jungen Frau, die in diesem Moment zu ihnen herüberzeigte. Er nickte und kam dann auf sie zu. Muhlhaus hatte offensichtlich einen seiner Ärzte
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