Der Trakt
tatsächlich verwählt hatte. Nach nur zweimaligem Klingeln hörte sie die vertraute Stimme sagen: »Elke Berheimer?« Sibylle hätte am liebsten aufgeschrien vor Freude, brachte aber keinen Ton heraus.
»Hallo?«, fragte Elke ungeduldig nach.
»Elke … Hier ist Sibylle.«
Stille. Sekundenlang. Dann, so leise, dass sie es fast nicht verstand: »Was? Wer spricht da? Sibylle? Sibylle Aurich? Bist du das wirklich?«
Es war definitiv Elkes Stimme, aber sie klang heiser und auf eine seltsame Art fremd.
»Ja, Elke, ich bin es. Ist Lukas bei dir?«
»Aber wo … ich meine … was ist passiert?«
»Ich bin überfallen worden – und entführt. Gestern Morgen bin ich in einem Keller aufgewacht. Ich konnte fliehen, und eine sehr nette Frau hat mir geholfen. Und Hannes hat mich …«
»Moment!«, wurde sie von Elke unterbrochen. »Du bist in einem Keller aufgewacht? Eine Frau hat dir geholfen? Bist du jetzt bei ihr?«
»Ja, aber –«
»Wo ist das? Wie heißt diese Frau?«
»Rosemarie«, antwortete Sibylle und sah dabei irritiert zu der Genannten herüber, die plötzlich mit den Händen herumwedelte und leise und mit übertriebenen Mundbewegungen sagte: »Nein. Nicht meinen Namen.« Dabei bewegte sie den Kopf zur Unterstreichung hin und her.
»Rosemarie?« Elkes Stimme, an ihrem Ohr. Sibylle riss ihren Blick von Rosie los.
»Elke, sag mir bitte, ob Lukas bei dir ist.«
Sie hatte langsam und eindringlich gesprochen. Wieder folgte wortlose Stille. Eine Sekunde, eine weitere …
»Elke! Was ist los, verdammt?«
»Nein«, kam zögerlich die Antwort. »Er … er ist nicht hier.«
Sibylle hörte deutlich ihren Herzschlag. Nicht langsam ansteigend, nein, ihr Kopf dröhnte vom schnellen, dumpfen Pumpen, mit dem das Blut in Schüben durch ihren Körper gejagt wurde.
»Oh Gott, Elke … Bitte sag mir, dass ihm nichts passiert ist. Sag mir, dass du weißt, wo mein Junge ist und dass es ihm gutgeht. Bitte.«
»Ja, es … es ist alles in Ordnung.«
Sibylle ließ sich auf das Sitzkissen sinken und konnte dabei ein lautes Aufstöhnen nicht unterdrücken.
»Gott sei Dank.« Sie wusste nicht, ob sie die Worte tatsächlich gesagt oder nur gedacht hatte. Sie räusperte sich. »Wo ist er?«
»Das möchte ich am Telefon nicht sagen. Es geht ihm gut. Kannst du zu mir kommen?«
Sibylle unterdrückte ein Schluchzen und antwortete: »Ich komme. Bis gleich!«
Lukas. Endlich!
Sie ließ den Hörer sinken. Aus ihrer anfänglichen Freude war eine Gefühlsmixtur aus unsäglicher Erleichterung auf der einen und dumpfer Angst auf der anderen Seite geworden.
Elke klingt seltsam …
Dieses Gefühl, von der wahren, realen Welt ausgeschlossen zu sein und durch ein bizarres Land zu wandeln, in dem nur hier und da jemand auftauchte, der entfernt an eine Person erinnerte, die ihr nahestand, war auch nach dem Telefonat kaum schwächer geworden.
»Was ist?«, wollte Rosie wissen. »Wie hat sie reagiert? Was hat sie gesagt? Hat
sie
dich nach meinem Namen gefragt?«
»Ich … ich weiß es nicht … ja. Irgendwie war das ganz komisch. Zuerst war sie natürlich überrascht, aber dann … Ach, ich weiß nicht, was es war, aber es ist mir auch egal. Das Wichtigste ist, dass es Lukas gutgeht, und sie weiß, wo er ist. Wir müssen sofort zu ihr, sie wartet auf uns.«
Ohne Zögern zeigte Rosie zur Tür. »Dann los!«
16
Elke wohnte in Stadtamhof, einer von der Donau umflossenen Insel im nördlichen Regensburg, die über die Steinerne Brücke direkt mit der Altstadt verbunden ist. Rosie fuhr gleich hinter Burgweinting auf die Autobahn. In den ersten Minuten saßen sie stumm nebeneinander, und Sibylle ging in Gedanken immer wieder das Gespräch mit Elke durch. Natürlich musste ihre Freundin vollkommen überrascht sein, nach zwei Monaten plötzlich etwas von ihr zu hören, aber selbst die Art, wie sich diese Überraschung ausdrückte, war seltsam. Was, wenn sie gar nicht wirklich überrascht war?
Und wieso interessiert Elke sich für Rosies Namen? In dieser Situation?
»Warum wolltest du eigentlich nicht, dass ich Elke deinen Namen sage?« Sie sah zu Rosie herüber, die sich mit ernster Miene auf den Verkehr zu konzentrieren schien.
»Ach, das war so ein Gefühl«, antwortete die, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. »Ich habe mich einfach nur gewundert. Nach zwei Monaten, die du verschwunden warst, in denen man fest hatte damit rechnen müssen, dass du einem Verbrechen zum Opfer gefallen bist, meldest du dich plötzlich
Weitere Kostenlose Bücher