Der Trakt
vorbeigehuscht waren.
»Sibylle? Alles in Ordnung?«
Erschrocken sah sie zu Rosie herüber, die ihr einen kurzen, besorgten Blick zuwarf.
»Ja, ich … ich war in Gedanken.«
»Wer will dir das verübeln? Aber du musst mir jetzt trotzdem sagen, wie ich fahren soll.«
Sibylle sah sich um und brauchte eine Weile, ehe sie erkannte, wo sie sich gerade befanden. Rosie hatte die Autobahn an der richtigen Abfahrt verlassen und fuhr nun auf der Frankenstraße.
»Da vorne müssen wir links ab. Es ist nicht mehr weit.«
Sie lotste Rosie das letzte Stück, und knappe fünf Minuten später standen sie vor dem Mehrfamilienhaus, in dessen drittem Stock sich Elke auf 80 Quadratmetern gemütlich eingerichtet hatte.
Parkplätze gab es vor dem Haus keine, und so stellte Rosie den Wagen einfach mit zwei Rädern auf dem Bürgersteig ab. »Ich bleibe sitzen«, erklärte sie, als Sibylle sie fragend ansah. »Nicht, dass mein Auto noch abgeschleppt wird. Außerdem ist es wahrscheinlich sowieso besser, du sprichst alleine mit deiner Freundin.« Sibylle nickte, ohne weiter darüber nachzudenken, und stieg aus.
Die schwere, hölzerne Tür war nur angelehnt, sie führte in einen schummrigen Flur, in den nur wenig Tageslicht durch ein Oberlicht über der Tür fiel. Zwei Fahrräder lehnten hintereinander an der Wand und wirkten wie riesenhafte Insekten von einem anderen Planeten.
Einen Aufzug gab es nicht. Sibylle nahm immer zwei der grauen Steinstufen auf einmal und stand nach kurzer Zeit schnell atmend vor der dunkelbraunen Wohnungstür im dritten Stock.
Elke Berheimer
war auf den Streifen Papier gedruckt, der unter das Plexiglasstück neben der Klingel geschoben war.
Noch bevor Sibylle dazu kam, auf den Klingelknopf zu drücken, wurde die Tür geöffnet und Elke stand vor ihr, ein paar Zentimeter kleiner als sie selbst, sympathisch aussehend, vielleicht einige wenige Kilos zu viel auf den Hüften.
Und mit einem Mal war es wieder da, dieses Gefühl, dass etwas nicht richtig war. Das sie schon vom Vortag kannte, als Rosie sie zu Hause abgesetzt hatte.
Aber dieses Mal war es konkreter. Sibylle wusste sogar ganz genau, was ihr falsch vorkam: Wieso war Elke kleiner als sie? Sie waren doch in etwa gleich groß. Oder erinnerte sie sich auch daran nach den zwei Monaten nicht mehr richtig?
Aber – egal! Es gibt weiß Gott wichtigere Dinge. Ob Elke wohl genau so reagieren wird wie Johannes? So tun, als ob sie mich nicht kennt und …
»Hallo Sibylle, schön, dich zu sehen«, sagte Elke.
Sibylles Herz klopfte ihr bis zum Hals. Elke stand einfach nur da und lächelte auf eine ganz seltsame Art.
Sibylle sah in das von blonden Locken umspielte Gesicht, das ihr so vertraut und in diesem Moment doch so unendlich fremd vorkam, und wusste nun, dass Johannes ihre Freundin zumindest angerufen hatte. Wahrscheinlich war es noch schlimmer.
Elke, die Elke, die
sie
kannte, hätte in dieser Situation nie und nimmer so ruhig in der Tür gestanden. Ihre Elke wäre ihr um den Hals gefallen, hätte geweint, sie geherzt und gedrückt.
Sibylles Gedanken rasten. Sollte sie einfach weglaufen? Doch Elke schien zu spüren, was in ihr vorging: »Ich … Entschuldigung, ich kann das nicht. Dazu ist die Sache viel zu ernst. Johannes hat mich angerufen, Johannes Aurich. Aber das haben Sie sich sicher schon gedacht, oder?«
Es klang nicht aggressiv, aber die seltsame Freundlichkeit war sowohl aus der Stimme als auch aus ihrem Gesicht verschwunden und hatte einer deutlichen Unsicherheit Platz gemacht. Oder war es Angst?
Sibylle spürte das Pochen ihres Herzens am Hals und in den Schläfen. Sie entschloss sich für den Angriff: »Du gehörst also auch dazu, Elke?« Sie bemühte sich um einen betont ruhigen Klang ihrer Stimme. »Ausgerechnet du? Warum tut ihr mir das an? Kannst du mir das wenigstens erklären? Worum geht es hier? Geld? Ich meine … – Oder hast du ein Verhältnis mit Hannes? Was zum Teufel wollt ihr, Elke? Was?«
Beim letzten Satz war sie sehr laut geworden, so laut, dass Elke zusammenzuckte und einen schnellen Blick den kurzen Flur entlang warf. »Bitte, kommen Sie doch rein«, sagte sie, und es klang fast flehend, »bitte.«
17
Die Nacht war kühl gewesen. Nicht kalt. Kalt war anders. Wenn in der Sahara nach Sonnenuntergang der Quarzsand seine Hitze innerhalb kürzester Zeit ins Weltall abgab und die Temperatur um 50 Grad sank, dann war es kalt. Hans wusste, was wirklich kalte Nächte waren.
Nachdem die letzten Lichter im Haus
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