Der Trakt
der Polizei? Traut er der auch nicht? Für mich sieht es eher so aus, als ob dieser Kerl selbst etwas mit der Sache zu tun hat und jetzt mit dieser Masche versucht, in deine Nähe zu kommen, um dich im Auge zu behalten.«
Sie behaupten beide, mir helfen zu wollen,
dachte Sibylle.
Und beschuldigen sich dabei gegenseitig. Es wird immer verrückter.
Mit einem Ruck schob sie ihren Stuhl zurück und stand auf. »Egal. Ich muss Lukas suchen. Ich weiß nicht,
wo
ich ihn suchen soll, aber irgendwas muss ich unternehmen.«
»Du hast recht, nichts ist jetzt wichtiger als dein Sohn.«
Sibylles Blick richtete sich wieder auf das rundliche Gesicht. »Hast du eigentlich Kinder?«
War Rosie bei der Frage zusammengezuckt, oder hatte sie sich das nur eingebildet? Erst nach einigem Zögern antwortete sie: »Nein. Leider nicht.«
Gleich darauf ließ sie die flache Hand auf den Tisch fallen, dass die Messer und Löffel auf dem Geschirr klirrten. »Also los, lass uns keine Zeit verlieren.«
Sie hätte gerne Kinder gehabt und konnte keine bekommen.
»Zeigst du mir ein Foto von deinem Mann? Ich wüsste gerne, wie er ausgesehen hat.«
»Mein Mann?«, fragte Rosie, und zum ersten Mal, seit sie diese Frau kannte, erschien es Sibylle, als ob etwas in ihrer Stimme mitschwang, das nach Angst klang. Sie schien sich aber schnell wieder zu fangen und winkte ab.
»Ach … Der ist doch jetzt wirklich nicht wichtig. Wir müssen uns um deinen Sohn kümmern.«
Sie möchte nicht, dass ich ihn sehe. Oder sie sagt mir nicht die Wahrheit.
Sibylle wunderte sich im gleichen Moment darüber, dass sie plötzlich so leicht bereit war, an Rosie zu zweifeln. Sie musste dieser Frau einfach vertrauen, selbst für den Fall, dass sie ihr nicht immer die Wahrheit sagte.
Wenn ich ihr nicht vertraue, wem dann? Wem denn dann?
15
Im Wohnzimmer setzte sie sich auf den Boden vor das Sitzkissen und lehnte den Rücken dagegen, während Rosie nebenan den Tisch abräumte. Sie schloss die Augen und hörte dem Klappern und Klirren zu, das aus der Küche zu ihr herüberdrang.
Ihre Gedanken glitten ab, entfernten sich aus diesem bizarren Horrorfilm, zu dem ihr Leben mit einem Mal geworden war, suchten die friedlichen Bilder der Vergangenheit, um sie wie kühlende Umschläge um ihre fiebrige Seele zu legen.
Manch einer hätte ihr Leben der letzten Jahre vielleicht als langweilig empfunden. Sie war verheiratet mit einem Mann, der sich weder zu wöchentlichen Skatabenden in irgendwelchen Kneipen traf noch mit Freunden grölend vor dem Fernseher saß und sich stundenlang Fußballspiele anschaute. Bei ihm lief schon von jeher alles in sorgsam geordneten und geplanten Bahnen, und im Laufe der Jahre hatte sie ganz selbstverständlich sein Lebensmodell übernommen.
Hier und da besuchten sie gemeinsam ein Theaterstück oder gingen zum Essen in ein nettes Restaurant, ansonsten machten sie es sich zu Hause gemütlich. Bevor sie sich kennengelernt hatten, war Sibylles Leben turbulenter verlaufen. Sie war ständig unterwegs gewesen, hatte keine Party verpasst und – dessen war sie sicher – vor ihrer Hochzeit mehr Erfahrungen gesammelt als Hannes. Aus ihrem damals riesigen Freundes- und Bekanntenkreis waren aber nach ihrer Heirat nur ganz wenige übrig geblieben. Im Grunde genommen nur Elke, die …
Elke!
Sibylle riss die Augen auf und richtete den Oberkörper ein Stück weit auf. Sie versuchte dabei, sich mit den Ellenbogen seitlich abzustützen, was aber fast unmöglich war, weil die Kissenfüllung sich unter ihren Armen teilte und seitlich wegdrückte.
Ihr Blick suchte schnell die Wände des Wohnzimmers ab, aber eine Uhr gab es dort ebenso wenig wie Bilderrahmen mit Fotos. Mühevoll befreite sie sich aus der Umklammerung der Kügelchen und hatte es gerade geschafft, sich aufzurichten, als Rosie aus der Küche kam. »Wie spät ist es?«, fragte Sibylle und strich eine Haarsträhne zurück, die ihr vor den Augen hing.
»Viertel nach acht.«
»Ich muss noch mal versuchen, Elke zu erreichen. Vielleicht ist Lukas ja bei ihr.«
Rosie war schon am Beistelltisch neben der Couch und hielt Sibylle den Telefonhörer entgegen. Sie tippte schnell Elkes Nummer ein, zu schnell, wie sich herausstellte, denn es meldete sich eine mürrische Frau mit dem Namen Kleinbauer, die auf Sibylles Nachfragen knapp erklärte, sie kenne keine Elke Sowieso. Dann legte sie wieder auf.
Sibylle versuchte es noch einmal, dieses Mal aber langsamer und mit pochendem Herzen in der Hoffnung, dass sie sich
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