Der Trakt
vom Korsett der zwingenden Logik zu befreien. Alles in allem war es nicht unangenehm, was da in ihrem Kopf passierte, denn es bewirkte, dass sogar die Last der Gewissheit um ihre verzweifelte Situation leichter zu ertragen war.
»Sibylle, ich kann ja verstehen, dass du enttäuscht bist, aber … –«
»Ich glaube nicht, dass du das wirklich verstehst«, schnitt Sibylle ihm das Wort ab, »du verstehst vielleicht etwas davon, wie man Menschen, die in großer Not sind, für seine eigenen Zwecke einspannt. Du und dieser Kommissar Wittschorek, ihr benutzt mich, für eure blöden Beamtenkarrieren. Und wie du gerade selbst eindrucksvoll beweist, interessiert es euch dabei reichlich wenig, was ich denke oder wie es mir geht.«
»Das ist unfair.«
»Unfair? Ausgerechnet du sprichst von Fairness? Wie fair seid ihr denn zu mir?« Ihre Stimme wurde lauter, es war ihr egal. »Du sprichst mich mit einer Lüge an, und als ich nicht darauf eingehe, inszenierst du zusammen mit deinem Kommissarfreund einen verlogenen Polizeieinsatz, und nachdem ich abhauen konnte, was natürlich auch getürkt war, tischst du mir die rührselige und von vorne bis hinten gelogene Story von deiner entführten Schwester auf!
Du
wagst es, von Fairness zu reden? Danke, ich verzichte auf diese Art von Fairness, Herr Polizeibeamter.«
Mit einem Ruck stand sie wütend auf, und auch er erhob sich. Als sie sich an ihm vorbeidrücken wollte, hielt er sie am Arm fest. »Geh jetzt nicht, bitte. So wie du das darstellst, ist das alles nicht.«
Doch sie hatte sich in Rage geredet und war außer sich. Sie versuchte, seinen Arm abzuschütteln, und als ihr das nicht gelang, schlug sie nach ihm.
Der Griff um ihren Oberarm wurde schmerzhaft fester. Christian versuchte, den Schlag abzuwehren, doch ihre flache Hand landete mit einem lauten Klatschen auf seiner Wange. Er stieß einen überraschten Laut aus, griff dann auch mit der freien Hand nach ihr und zog sie mit einem wütenden Ruck an sich heran. Sibylle verlor für einen Moment die Orientierung, spürte, wie sie auf seinen Brustkorb prallte und wollte schreien, doch plötzlich waren da Lippen, die sich auf ihren Mund pressten, und eine Zunge drängte sich gegen ihre Zähne, hektisch und fordernd. Sie presste die Lippen fest zusammen und versuchte, ihre angewinkelten Arme zwischen sich und Christian zu schieben, aber er hielt sie so fest an sich gepresst, dass sie keine Chance hatte. Sein Mund löste sich von ihr, und er zog den Kopf ein Stück zurück, gerade so weit, dass sie sich in die Augen sehen konnten.
»Was soll das?«, fauchte sie ihn an. »Lass mich sofort los.«
Christian grinste, dann kam sein Mund wieder näher, dieses Mal jedoch vorsichtiger. Sibylle wollte zurückweichen, aber seine Arme hielten sie so unnachgiebig umschlossen, als wäre sie in einen Schraubstock eingespannt.
Nur wenige Zentimeter trennten seine Lippen noch von ihren, als Sibylle es schließlich aufgab, sich in seinem Griff zu winden, und als sich ihre Lippen wieder berührten, ergab sie sich und öffnete den Mund. Im nächsten Moment wusste sie nicht mehr, warum sie sich so gewehrt hatte.
Sie schloss die Augen, und für einen Moment waren Wut, Angst und Verzweiflung verflogen. Es war, als hätte es die letzten eineinhalb Tage nicht gegeben. Dieses Gefühl, einem Menschen so nahe zu sein, dass man für einen Augenblick mit ihm verschmolzen war, dieses sanfte Streicheln eines fremden, warmen Atems auf der Wange, es war in diesem Augenblick so stark, dass nicht für einen einzigen anderen Gedanken in ihr Platz gewesen wäre.
Sie spürte die Stärke seiner Arme, die sie so unerbittlich hielten, und wusste, es würde für diese Arme keinen Unterschied machen, wenn sie sich einfach fallen ließe. Sie würden sie weiterhin halten. Einer der Arme löste sich von ihrem Körper, während aus dem zarten Umgarnen ihrer Lippen und Zungen ein immer schneller werdender, wilder Tanz wurde. Eine Hand schob sich unter ihr Shirt, strich über ihren Bauch und tastete sich schnell höher. Fingerspitzen erreichten ihre Brust, glitten über die Wölbung bis an die Spitze, und plötzlich gab das eben noch so überwältigende Gefühl gerade so weit nach, dass in ihren Gedanken Platz genug war für … ein Bild –
Hannes …
Mit einem wilden Ruck zog Sibylle den Kopf zurück und befreite sich aus Christians Griff. Er war von ihren schnellen Bewegungen offenbar so überrascht, dass er sie nicht halten konnte.
»Nein«, sagte sie atemlos, und
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