Der Trakt
sie Christian das Reden. Er lächelte die hübsche junge Frau dahinter an und sagte: »Guten Abend. Wir müssen unerwartet eine Nacht in München bleiben und sind auf der Suche nach einem Doppelzimmer. Haben Sie vielleicht noch etwas für uns frei?«
Von einer Sekunde auf die nächste war Sibylle hellwach. »Entschuldigung«, sagte sie, »aber wir möchten zwei Einzelzimmer.«
Für einen kurzen Augenblick konnte sie Verwirrung auf dem ebenmäßigen Gesicht der Rezeptionistin erkennen, doch dann hatte sie sich schon wieder gefangen und ihr professionell-freundliches Lächeln aufgelegt. »Selbstverständlich«, sagte sie. »Einen Moment bitte, ich sehe mal nach.«
Schlanke, gepflegte Finger mit rot lackierten Nägeln huschten über die Computertastatur, und nach wenigen Sekunden verkündete die Angestellte, dass noch zwei Einzelzimmer zu haben seien, die zwar auf dem gleichen Flur, nicht aber direkt nebeneinanderlägen.
»Das ist kein Problem, die nehmen wir«, sagte Sibylle. Christian war wortlos einen Schritt zurückgetreten.
»Schön. Wenn Sie dann bitte das hier ausfüllen?« Sie legte einen Kugelschreiber und ein Blatt auf den Tresen.
Sibylle füllte das Formular aus und übersah dabei geflissentlich das Kästchen, in dem die Ausweisnummer eingetragen werden sollte. Christian gab sie als Mitreisenden an und schob das Blatt ein Stück zurück. Sie hoffte, dass die junge Frau sich damit zufriedengeben würde: »Ich zahle die Zimmer gleich.«
Ohne auf eine Reaktion von Christian zu warten, beglich Sibylle die Rechnung und gab ein großzügiges Trinkgeld.
Zehn Minuten später ließ sie sich mit einem tiefen Seufzer rückwärts auf das Bett in ihrem Zimmer fallen und spürte sofort, wie die Müdigkeit versuchte, sie einzulullen und sanft in den Schlaf zu ziehen.
Noch wehrte sie sich dagegen, denn sie hatte mit Christian abgemacht, dass sie noch kurz zu ihm rüberkommen würde, bevor sie zu Bett gingen. Drei Türen lagen zwischen seinem Zimmer und ihrem.
Als der Schlaf nun immer fordernder nach ihr griff, riss sie die Augen auf und zwang sich unter Aufbietung großer Willenskraft dazu, sich aufzurichten.
Das geräumige Zimmer wirkte hell und freundlich. Die orange-gelben Vorhänge verliehen dem Raum zusammen mit den pastellgelben Wänden ein sommerliches, fast mediterranes Flair.
Mit einem tiefen Seufzen stand Sibylle auf.
Im Badezimmer warf sie einen Blick in den Spiegel und stellte erschrocken fest, dass sie sich mittlerweile selbst schon wie eine Fremde vorkam.
Ihr blasses, ungeschminktes Gesicht sah aus, als hätte sie seit mehreren Tagen nicht mehr geschlafen. Die Haare hingen ihr glanzlos wie zu dünn geratene Spaghetti vom Kopf, und selbst an ihrem Hals glaubte sie Falten zu sehen, die ihr vorher noch nie aufgefallen waren.
Sie drehte den Wasserhahn auf, beugte sich über das Waschbecken und spritzte sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht. Es tat gut und weckte ihre Lebensgeister zumindest kurzzeitig wieder auf.
Es dauerte einige Sekunden, bis Christian auf ihr Klopfen hin öffnete. Wahrscheinlich war auch er im Badezimmer gewesen. Oder er hatte wieder telefoniert.
Er ging zur Seite und sagte: »Komm rein.«
Sie betrat das Zimmer, das ebenso geräumig war wie ihres, und setzte sich auf den bequemen Sessel, der schräg zwischen Bett und Fenster neben einem kleinen runden Tisch platziert war.
»Ich werde in München bleiben«, stellte sie ohne Umschweife fest, als Christian sich so auf den Rand seines Bettes gesetzt hatte, dass der Abstand zwischen ihnen nur einen halben Meter betrug.
»Aber warum? Was möchtest du noch hier?«
»Ich kann es dir nicht sagen, ich weiß es selbst nicht.
Es ist … ein Gefühl, ich glaube, ich werde hier in München am ehesten etwas darüber rausfinden, was mit mir passiert ist.«
Christian beugte sich ein Stück nach vorne und stützte die Unterarme auf seinen Oberschenkeln ab.
»Und wo willst du suchen? Wonach willst du bitte suchen? Das ist doch verrückt.«
»Findest du? So verrückt wie die Tatsache, dass man mir ein Kind verpasst hat, das es nicht gibt? Dass mein eigener Mann mich von der Polizei abholen lässt? Dass ein Polizist, den ich überhaupt nicht kenne, mir glaubt und an seinem Kollegen vorbei ermittelt? Ist es verrückter als eine ausgeflippte alte Frau, die sich als Helferin eines Geheimdienstes oder was auch immer an mich hängt und mir weismachen möchte, dass sie mir hilft, ein Kind zu suchen, das es gar nicht gibt? Glaubst du wirklich,
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