Der Trakt
gleich darauf noch einmal, »nein. Das ist … das geht nicht. Ich bin verheiratet.«
Christian sah sie ungläubig an. »Möchtest du für den Rest deines Lebens auf alles verzichten, weil du einen virtuellen Mann hast?«
Sibylle glaubte, sich verhört zu haben. Sie
hoffte
, sich verhört zu haben. »Was sagst du da? Einen virtuellen Mann? Was meinst du damit, Christian?«
Er wandte sich schnaufend ein wenig von ihr ab und stemmte die Hände in die Seiten. »Was soll ich damit schon meinen«, sagte er an ihr vorbei, gerade so, als stünde dort noch jemand anderes, zu dem er sprach. »Dein Mann möchte nichts mit dir zu tun haben, weil du nicht wie
seine
Sibylle aussiehst. Er hat die Polizei gerufen und würde dich am liebsten im Gefängnis oder in der Klapsmühle sehen.« Nun sah er sie wieder direkt an. »Und diesem Kerl fühlst du dich verpflichtet? Während hier jemand vor dir steht, der … der dich haben möchte?«
Sibylle wollte ihn anschreien, aber sie spürte, seine Antwort hatte ihr die Kraft geraubt, die sie zum Schreien gebraucht hätte. »So siehst du das also«, war alles, was sie leise herausbrachte.
Sie setzte sich in Bewegung, um an ihm vorbei das Zimmer zu verlassen und rechnete damit, dass er sie wieder festhalten würde, aber er machte keine Anstalten dazu. Erst kurz bevor sie die Tür erreicht hatte, sagte er hinter ihrem Rücken: »Tut mir leid, Sibylle. Kann ich morgen trotzdem bei dir bleiben?«
Einen Moment lang stand sie reglos da, dann wischte sie sich die Tränen ab.
Sie war so unendlich müde.
33
Hans hatte das letzte freie Zimmer bekommen. Es lag zwei Etagen höher als die Zimmer der beiden.
Dem jungen Ding an der Rezeption hatte er den Preis für das Zimmer gleich in bar auf den Tresen gelegt. Er hätte ihr erklären können, dass er frühmorgens schon wieder abreisen müsse und deshalb schon im Voraus bezahlte, aber Hans mochte keine Erklärungen. Es ging niemanden außer den Doktor etwas an, warum er die Dinge tat, wie er sie tat. Wenn er jedes Mal eine Erklärung hätte abgeben müssen, sobald er in Ereignisse eingriff …
Nun saß Hans mit dem Telefon am Ohr auf dem Stuhl in seinem Zimmer, den Oberkörper steif aufgerichtet, und lauschte den Instruktionen.
Anschließend zog er seine Schuhe aus und setzte sich auf das Bett. Er winkelte das rechte Bein an und zog sein Famas-Bajonett aus dem Lederholster, das er um seinen Unterschenkel gebunden hatte. Er legte es in seine Handfläche und betrachtete die glänzende Scheide, in der sich das Licht der Deckenlampe spiegelte.
Viele Jahre begleitete ihn dieses Messer schon. Auch damals in Sarajevo, aufgepflanzt auf seiner Famas. Selbst als alles über ihm zusammengebrochen war, hatte er sein Gewehr nicht losgelassen, so, wie man es ihnen eingetrichtert hatte.
Beim Hinfallen hatte sich die Waffe dann so verdreht, dass das Bajonett in der Lendengegend in ihn eingedrungen war. Während der ganzen Zeit, die er in der Dunkelheit eingeschlossen gewesen war, hatte sein Bajonett in ihm gesteckt, und von der Klinge, mit der er kurz zuvor noch zwei Feinde getötet hatte, war er schlimm verletzt worden. So schlimm, dass sein Körper seitdem nicht mehr in der Lage war, die Grundbedingungen zu erfüllen, die für das körperliche Zusammensein mit einer Frau Voraussetzung waren.
Und weil es sein Leben so sehr verändert hatte, benutzte er auch ausschließlich sein Famas-Bajonett, wenn er in das Leben anderer eingriff, um zukünftige Ereignisse zu verändern.
Ein Bild drängte sich in seine Gedanken. Es war Janes Gesicht. Es wirkte so … zerbrechlich. Hans sah sie so deutlich vor sich, als stände sie ihm gegenüber. Er sah ihr weiches Haar, ihre reine, porzellangleiche Haut.
Er dachte daran, dass sie mit diesem Kerl da unten war. Sie hatten zwei Zimmer genommen, aber wenn er …
Auf der Suche nach Graten an seiner Waffe zog Hans die Klingenflanke erst über den Handballen, dann schob er den Fingernagel seines Daumens über die Schneide. Mit dieser Methode konnte man auch kleinste Unebenheiten feststellen. Nachdem er sicher sein konnte, dass die Klinge absolut in Ordnung war, steckte er das Bajonett wieder in die Lederhülle an seinem Bein und legte sich auf den Rücken.
Der nächste Tag würde der letzte des Jane-Doe-Experiments sein, hatte der Doktor gesagt. Die Situation würde dann entscheiden, wie Hans eingreifen musste.
Nein, Jane selbst würde entscheiden, wie … sehr er eingreifen musste. Denn für den Doktor wurde sie
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