Der Traum der Hebamme / Roman
diesen Punkt nicht vor jedermann zu erörtern.
Dietrich wusste ebenso wie Thomas, dass so viele Männer, die zum Kämpfen gekommen waren und Beute machen wollten, nicht lange in Untätigkeit verharren würden. Das mussten sie nicht einmal aussprechen; ein Blick zwischen ihnen beiden genügte. Sie hatten auf dem vorangegangenen Kreuzzug und während der Kämpfe um Weißenfels genug Seite an Seite durchlitten, um zu wissen, was der andere in dieser Lage dachte.
»Halte die Männer mit den Pferden beschäftigt, sonst geht die Disziplin verloren«, riet Dietrich seinem Vetter Konrad.
Der setzte diesen Vorschlag gleich nach der Morgenandacht und dem Frühmahl um. Die Pferde mussten nach der Überfahrt dringend bewegt werden, damit sich ihre steifen Muskeln lockerten und ihre Verdauung wieder in Gang kam.
Rasch setzte Geschäftigkeit in den Koppeln ein. Um zu verhindern, dass Einzelne die Gelegenheit nutzten, entgegen den Befehlen zu einem Beutezug aufzubrechen, befahlen die Anführer nach den ersten vorsichtigen Gehversuchen der Pferde Formationsübungen für ihre Einheiten.
Dietrich und Thomas allerdings stiegen in den Sattel, um nun endlich auszuführen, was sie am Vortag nicht mehr geschafft hatten. Sie ritten zum Hospital der Deutschen in Akkon.
Dietrich wusste, dass sich das Sankt-Nikolaus-Tor im Nordosten Akkons befand. So hielten sie vom Lager aus gleich auf dieses Tor zu, um die Stadt zu betreten.
Als sie dort waren, erkundigte er sich in der Sprache der Franzosen, ob die Kirche vor ihnen die Marienkirche des Hospitals der Deutschen sei, und erhielt eine bestätigende Antwort.
Es war nicht mehr weit. Bald standen sie vor einem umzäunten Garten mit einem mehrstöckigen Haus und einer Kirche. Als ein Mönch sie mit deutschen Worten einlud einzutreten, kam es Thomas schon fast ungewohnt vor, hier in der Fremde auf jemanden zu treffen, der seine Sprache sprach – von den Reisegefährten abgesehen.
Thomas übernahm es, sich um die Unterbringung der Pferde zu kümmern, dann folgte er Dietrich in die Kirche und kniete neben ihm vor dem Altar nieder.
In dieser Kirche, das hatte ihm der Graf von Weißenfels erzählt, war nun Friedrich von Schwaben bestattet. Für ihn und für seinen toten Freund wollte Thomas beten.
Roland und der Herzog von Schwaben waren beide erst Anfang zwanzig, als sie hier vor Akkon starben. Friedrich war wie Tausende elendig an einer Seuche zugrunde gegangen, auf eine der qualvollsten und würdelosesten Arten, auf die man sterben konnte.
Beinahe wäre auch Roland dieses Schicksal widerfahren. Thomas hatte ihn retten können, indem er sein Pferd schlachtete und den Kranken davon etwas zu essen kochen ließ. Doch kaum war Roland wieder halbwegs genesen, fiel er bei einem sinnlosen Scharmützel, durch übereifrige Pisaner und Engländer vom Zaun gebrochen, denen die Deutschen zu Hilfe kommen mussten.
Nach zweieinhalb Jahren auf diesem verlustreichen und strapaziösen Kreuzzug, nach so vielen überwundenen Gefahren und blutigen Schlachten, starb Roland einen Tag vor Einnahme der Stadt durch einen Pfeil in den Rücken.
Thomas stand das Bild immer noch vor Augen. Er hatte es nie vergessen und würde es nie vergessen können … Seine Fassungslosigkeit, seine vergebliche Hoffnung, der Freund könnte überleben …
Er hatte ihn noch ins Krankenlager geschleppt. Aber nicht einmal die heilkundigsten Helfer konnten ihn retten.
Der nie verwundene Schmerz und die nie erloschenen Selbstvorwürfe schnürten ihm die Kehle zu. Seine Augen fingen an zu brennen. Mit einer heftigen Bewegung stemmte er sich hoch und stürzte hinaus. Er konnte es nicht länger ertragen, hier Rolands Gesicht zu sehen, den Nachhall seiner Stimme zu hören. Am liebsten hätte er seine Verzweiflung aus sich herausgeheult und herausgeschrien.
Aber nicht vor Dietrich. Und nicht in einer Kirche. Der Gedanke, dass Dietrich von Weißenfels – der Mann, den sein Vater zum Ritter erzogen hatte – ihm nachsah und sich seinen Teil dachte, dass er ihn aus der Andacht gerissen und sich als unbeherrscht gezeigt hatte, machte alles noch schlimmer.
Zu Thomas’ einziger Erleichterung folgte Dietrich ihm nicht, sondern verharrte vor dem Altar,
Er hatte geglaubt, hier Heilung finden zu können. Aber er hatte sich wohl geirrt. Er war nicht stark genug, um die Erinnerung zu ertragen.
Wieder einmal ging er zu seinem Hengst und verbarg sein Gesicht an Dragos Hals.
Da stehen wir, mein Freund, ganz wund und für den Kampf nicht
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