Der Traum der Hebamme / Roman
erinnerte.
»Vieles von dem, was dann geschah, habe ich erst später erfahren«, fuhr Eschiva fort. »Das Geld aus dem Schatzamt reichte nicht für den Freikauf aller zwanzigtausend Armen. Was sollte Saladin tun? Sein Bruder al-Adil bat ihn um tausend Sklaven, die er bekam und sofort freiließ. Saladin befahl, auch die Alten freizugeben und ihnen die Sklaverei zu ersparen. Der Herr von Ibelin schenkte fünfhundert Christen die Freiheit. Aber es blieben immer noch zehntausend übrig. Die konnte Saladin selbst als gütigster aller Sieger nicht freilassen, wollte er seinen Ruf als gefürchteter Gegner nicht verlieren.«
Eschiva wischte sich erneut Tränen aus den Augen. Nun war ihre Stimme ungewohnt bitter.
»Man erzählt sich, der Patriarch von Jerusalem habe so viel Gold, Silber, edle Teppiche und andere Schätze mit sich genommen, dass er mehrere Karren dafür benötigte. So verließ er mit Reichtümern beladen Jerusalem, statt damit die Christenmenschen vor der Sklaverei zu bewahren. Ich gebe ihm die Schuld, nicht Saladin, dass meine Familie verkauft wurde. Wir hatten nicht das Glück, ausgelöst zu werden. Sklaven waren damals sehr billig, für ein paar Schuhe bekam man zwei oder drei.«
Beklommen dachte Thomas an das Schaffell, das er für ein Paar Schuhe eingetauscht hatte.
»Meine Eltern habe ich nie wiedergesehen. Meine Mutter war eine schöne Frau. Sie hat geschrien, als man sie von mir wegzog. Der sie kaufte, war ein fetter Mann mit einem Haufen verrohter Bewaffneter um sich, der ihr vor aller Augen das Kleid herunterriss und nach ihren Brüsten griff. Als mein Vater dazwischengehen wollte, haben sie ihn fast totgeschlagen. Nachts in meinen Träumen erlebe ich es wieder und wieder. Mich wollte niemand, ich war zu klein und nur ein unnützer Fresser. Bis sich Godwin meiner erbarmte. Er nahm mich mit hierher und zog mich auf wie eine Tochter.«
Thomas’ Miene verriet seine Gedanken.
»Richtet nicht über ihn!«, fauchte Eschiva. »
Ich war wie eine Tochter für ihn!
Als ich älter wurde, schenkte er mir die Freiheit und heiratete mich, um seine missratenen Stiefsöhne von mir fernzuhalten. Er hat mich nie angerührt, denn er war schon zu alt und zu krank, um noch eine Frau im Bett zu wollen. Aber jetzt, da er so gut wie tot ist, werden sie über mich herfallen. Deshalb kann ich nicht nach Hause, nicht einmal, um das Totenhemd zu holen, das ich für ihn genäht und bestickt habe, denn sie haben sich dort schon eingenistet und lauern mir auf.«
Thomas wiederholte sein Angebot, sie ins Haus zu begleiten, doch sie schien gar nicht zuzuhören.
»Er wünschte sich so sehr, einmal in diesem Hemd begraben zu werden, weil ich mir so viel Mühe damit gegeben habe«, sprach sie mit zittriger Stimme weiter. »Seine Stiefsöhne wollen das Haus und sein Geschäft für sich. Sie werden mich totschlagen oder als Sklavin verkaufen, und vorher werden sie sich endlich holen, was sie schon lange wollten …«
Plötzlich griff sie nach seinem Arm.
»Nehmt mich! Keiner von denen soll der Erste zu sein. Und wenn sie merken, dass ich noch unberührt war, lassen sie die Ehe als ungültig erklären. Dann bin ich wieder eine Sklavin.«
Fassungslos starrte Thomas in das Gesicht dieses Mädchens. Scheu legte sie ihre Hand an seine Wange und zog ihn näher zu sich.
»Ihr seid wenigstens freundlich zu mir«, flüsterte sie. »Helft mir, bitte!«
Allein die Berührung ihrer schmalen Hand verursachte eine Erektion bei Thomas. Zu lange schon hatte er keine Frau mehr gehabt.
»Wollt Ihr mich nicht? Gefalle ich Euch nicht?«, bedrängte sie ihn beinahe verzweifelt, als er sich nicht rührte.
»Du gefällst mir, sehr sogar«, gab er zögernd zu. »Ich träume von dir, seit ich dich zum ersten Mal sah.«
Länger konnte er nicht widerstehen, er tat, was er seit Wochen wünschte: Er küsste ihre weichen, vollen Lippen. Dabei spürte er, wie sie erst am ganzen Leib zitterte, dann aber ruhiger wurde, ihre Lippen öffnete und seinen Kuss zu erwidern begann. Zärtlich legte er seine Hand in ihren Nacken und genoss ihren Duft, ihre Süße. Doch als sie seine Hände auf ihre Brüste legen wollte, stand er rasch auf und zog sie mit sich hoch. Dies war weder der rechte Ort noch die rechte Zeit, um zu tun, was sie wollte – und schon gar nicht die rechte Art. Er war geradezu froh darüber, dass sich seine Erregung schon in die Bruche entladen hatte.
»Wir holen gemeinsam, was du für deinen Mann brauchst«, sagte er so entschieden, dass
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