Der Traum der Hebamme / Roman
konnte nicht verbergen, dass sie am ganzen Leib zitterte.
Marthe goss Wasser in einen Becher und reichte es ihr. Dann nahm sie die Frau an den Schultern und hob sie auf. »Legt Euch ins Bett, bis Ihr Euch wieder besser fühlt. Ich lasse Euch eine Arznei zubereiten.«
Beschämt ließ sich Gertrud zum Lager führen und krümmte sich wortlos unter den Decken zusammen.
»Übergebt Marthe die Schlüssel zu den Vorratskammern«, befahl Dietrich. »Gottfried, führt die Herrin von Christiansdorf herum und zeigt ihr alles Nötige. Seid unbesorgt, sie hat viele Jahre als Gemahlin des Vogtes für die Vorräte auf der Freiberger Burg sorgen müssen und kennt sich damit aus.«
Herrin von Christiansdorf! Marthe schluckte. Viele Jahre hatte niemand sie mehr so genannt – seit dem Tod ihres Mannes Christian. Dass sie umgehend danach Lukas’ Frau werden musste, geschah aus der Not heraus und war blutigen Ereignissen geschuldet, auch wenn Lukas sie schon vorher geliebt hatte.
Für junge Edelfrauen gehörte es zur Erziehung, dass sie lernten, Vorräte für einen großen Haushalt oder gar eine Burg anzulegen und zu verwalten. Doch sie stammte aus ärmsten Verhältnissen und wusste nicht das Geringste von diesen Dingen, als Markgraf Otto Christian und sie überraschend zu Edelfreien ernannte und ihrem Mann einige Jahre später sogar das Kommando über die Freiberger Burg anvertraute. Eine tüchtige und erfahrene Wirtschafterin hatte ihr erst dort beigebracht, was sie alles wissen musste.
Es war eine große Verantwortung, dass niemand verhungerte und kein Streit um das Essen aufkam. Das war es schon in Friedenszeiten, vor allem, wenn die Winter lang oder die Ernten schlecht ausfielen, und erst recht im Krieg.
Nach Marthes Schätzung waren nun fünfhundert Menschen auf der Burg – mehr, als die Erbauer vermutlich je geplant hatten. Doch wer in solch einer Lage seinen Pflichten nicht nachkam, der war hier fehl am Platz, weil er mehr Schaden anrichten konnte als der Feind.
Sie nahm die Schlüssel entgegen, die Gertrud mit zittrigen Fingern von ihrem Gürtel löste, und verneigte sich vor Dietrich. Dann folgte sie dem Verwalter, um die Säcke mit Korn und Erbsen und die Fässer mit gepökeltem Fisch zu zählen.
Nachdem sich Marthe einen Überblick über die Vorräte verschafft hatte, hielt sie erneut Ausschau nach Dietrich. Der sprach gerade in der Halle zu den Menschen, die auf der Burg Zuflucht gesucht hatten und nicht wussten, ob ihre Häuser noch standen oder in Flammen aufgegangen waren.
»Die Angreifer haben sich auf den gegenüberliegenden Berg zurückgezogen und führen kein Belagerungsgerät mit sich«, sagte er, als Marthe den vollen Saal betrat. »Solange wir hier also den Mut nicht verlieren, können sie uns nichts anhaben.«
»Sie brannten uns die Häuser nieder!«, rief eine dürre, hochgewachsene Frau in einem braunen Kleid voller Wollflocken. »Woher sollen wir noch Mut nehmen?!«
»Wir werden die Häuser wieder aufbauen«, sagte Dietrich, so ruhig er konnte. »Es gab heute keinen Toten auf unserer Seite – das ist es, was zählt. Unsere Vorräte reichen für mehrere Wochen. Und sollten sie zur Neige gehen, haben wir noch das, was ihr mitgebracht habt. Lasst meinen Verwalter aufschreiben, dass ihr eine Ziege, ein Huhn oder einen Sack Korn abgegeben habt, und ihr bekommt dafür Geld, um Neues zu kaufen, wenn wir das hier gemeinsam überstanden haben.«
Norbert neben ihm bat um die Erlaubnis zu sprechen.
»Die Handwerker sollen sich zusammentun, um noch mehr Pfeile und Armbrustbolzen herzustellen. Die Frauen und größeren Kinder können ihnen helfen.«
»Ich brauche noch ein paar tüchtige Leute für das Backhaus und die Küche«, ergänzte nun Marthe, die zu Dietrich und Norbert trat. »Helft, uns allen eine Mahlzeit zu bereiten und den Männern Essen zu bringen, die in den Wehrgängen und auf dem Turm Wache halten.«
Für jede der Arbeiten meldeten sich ein paar Freiwillige; die Übrigen teilte Marthe dazu ein, das Leinen zu waschen, das für die Verwundeten gebraucht wurde, sich um das Vieh zu kümmern oder auf die Kinder aufzupassen, damit sie nicht über den Hof tollten und Unfug anstellten.
Bald waren fast alle mit dieser oder jener Arbeit beschäftigt. Zufrieden sah Dietrich, dass die Verzweiflung wich. Dann ließ er Lukas und Thomas rufen, um mit ihnen und Norbert Kriegsrat zu halten. Zu deren Überraschung bat er auch Marthe hinzu.
Die Kämpfer, die sich in Dietrichs Kammer
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