Der Traum der Hebamme / Roman
versammelten, trugen alle noch volle Rüstung, abgesehen von Kettenhauben und Helmen.
Gottfried, der Verwalter, ließ zu dieser Besprechung aus der Küche Brot, Fleisch und Bier kommen. Keiner der Anwesenden hatte seit dem Kampf an der Furt Gelegenheit zum Essen gehabt, und diesmal griffen sie herzhaft zu trotz der wichtigen Dinge, die zu bereden waren. Nicht nur, weil die letzte Mahlzeit lange zurücklag, sondern auch, weil niemand wusste, wann sie die nächste in Ruhe würden einnehmen können. Nächtliche Angriffe waren ein beliebtes Mittel, Belagerte zu zermürben.
Nur Marthe hielt sich im Hintergrund, weil Frauen normalerweise in einem Kriegsrat nichts zu suchen hatten. Sie saß in einer der steinernen Fensternischen und nutzte die Gelegenheit, das Gesicht ihres Sohnes zu betrachten, den sie so lange nicht gesehen hatte.
Norbert erhielt als Erster in der Runde das Wort. Er hatte einen Kundschafter ausgeschickt, der soeben mit Neuigkeiten zurückgekehrt war. Der Mann hatte sich vorsichtig bis ganz in die Nähe Albrechts gewagt und dessen Gespräch mit dem Truchsess und dem Marschall belauscht.
»Euer Bruder hat fünfzig Mann Verstärkung angefordert«, berichtete er. »Und den Tross mit Belagerungsgerät.«
»Mindestens zwei Tage brauchen die Boten nach Meißen, und die Trosskarren derzeit sicher fünf Tage bis hierher«, überschlug Dietrich. Nach dem Regen der letzten Tage würde ein Teil der Wege für den Tross nur mühsam zu passieren sein. »Das heißt, in spätestens einer Woche müssen wir uns auf schweren Beschuss einstellen, auf Ballisten, brennende Geschosse. Wie lange reichen unsere Vorräte, Marthe?«
Alle starrten die zierliche Frau an, die sich äußerst unwohl dabei fühlte.
»Zwei Wochen. Zweieinhalb, wenn wir den Gürtel enger schnallen«, gab sie Auskunft. »Dreieinhalb, wenn wir sämtliches Vieh schlachten, auch die Zugochsen.« Sie zog bedauernd die Schultern hoch. »Es sind jetzt fünfhundert Seelen hier, das sind sehr viele.«
»Von denen nicht einmal einhundert kämpfen können. Ich verstehe«, sagte Dietrich mit verschlossener Miene.
»Zwanzig Ritter, die thüringischen eingeschlossen, ein Dutzend Sergenten, zwei Dutzend Reisige und Bogenschützen, dazu die Knappen und ein Dutzend Bürger mit Spießen und Armbrüsten«, zählte Norbert die Mannschaftsstärke auf. »Im Notfall ließen sich noch ein bis zwei Dutzend ältere Männer und Knaben bewaffnen.«
Dann sank er vor Dietrich auf ein Knie.
»Verzeiht mir, Herr! Ich habe die Lage unterschätzt. Nie hätte ich gedacht, dass Euer Bruder so viele Bewaffnete gegen Euch aufbietet. Ich hätte mehr Männer in Sold nehmen müssen. Wenn Ihr es wünscht, übergebe ich das Kommando einem fähigeren Mann.«
»Nein, bleibt auf Euerm Posten«, entschied der Graf von Weißenfels. »Es ist ohnehin nicht mehr zu ändern. Und woher hättet Ihr mehr kampferprobte Männer nehmen sollen in der Kürze der Zeit?«
Ihr könnt diejenigen, die ich ins Heilige Land geführt habe, nicht von den Toten auferstehen lassen, dachte er, auch wenn er sich davon nichts anmerken lassen durfte.
Während Norbert sich schweigend erhob und wieder an seinen Platz ging, sprach Dietrich weiter, diesmal an die ganze Runde.
»Mein Bruder plant offensichtlich, auf dem Berg eine provisorische Gegenburg zu bauen. Er lässt schon Palisaden errichten. Unsere eigenen übrigens, die vom Fluss. Nachdem seine Männer die Leichen und Pferdekadaver aus dem Wasser gezogen und die Gefallenen begraben haben, holten sie sich das Holz. Und das Pferdefleisch werden sie wohl kochen.«
Dietrich und Thomas wechselten einen kurzen Blick. Jeder von ihnen hatte in diesem Moment die gleichen quälenden Erinnerungen vor Augen: wie das Heer Friedrichs von Staufen auf dem Weg ins Heilige Land, abgeschnitten von jeglicher Versorgung, Pferdeblut trank und Pferdefleisch aß, bis auch das nicht mehr zu haben war. Und wie Thomas vor Akkon seinen Hengst opferte, damit Roland nicht verhungerte. Der Freund erholte sich wieder … und starb wenig später durch einen Pfeil.
»Wenn wir hier auch alle Pferde schlachten – wie lange würde unser Proviant dann reichen?«, fragte Dietrich Marthe.
Sie zuckte zusammen, überschlug aber rasch die Menge an Fleisch. »Sechs Wochen. Allerdings werden wir dann vielleicht kein Holz mehr haben, um für alle zu kochen.«
»In sechs Wochen müsste da drüben schon die rote Ruhr umgehen. Außerdem könnte dann Schnee liegen«, meinte nun Lukas. »Doch ich würde
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