Der Traum des Kelten
besuchen, ganz bestimmt. Wusstest du, dass Scotland Yard nach dem Aufstand in Dublin ihr Haus durchsucht hat? Sie haben viele Dokumente mitgenommen. Sie liebt und bewundert dich sehr, Roger.«
›Ich weiß‹, dachte Roger. Auch er liebte und bewunderte Alice Stopford Green. Die Historikerin und Schriftstellerin, die wie Roger einer anglikanischen irischen Familie entstammte, deren Salon eines der Zentren des Londoner Geisteslebens und gleichzeitig den Treffpunkt für die irischen Nationalisten und Unabhängigkeitskämpfer bildete, war für ihn mehr als eine Freundin und Ratgeberin in politischen Angelegenheiten gewesen. Dank ihrer Unterweisungen hatte er die Geschichte Irlands kennen- und lieben gelernt, die blühende alte Kultur, die der übermächtige Nachbar unterjocht hatte. Sie hatte ihm Bücher empfohlen, ihn bei Gesprächen mit ihrer Begeisterung angesteckt, hatte ihn ermutigt, weiter die irische Sprache zu lernen, die zu beherrschen ihm leider nie ganz gelang. ›Ichwerde sterben, ohne Gälisch zu sprechen‹, dachte er. Und später, als er selbst zum radikalen Nationalisten geworden war, hatte Alice ihn in London als Erste mit dem Spitznamen angeredet, den Herbert Ward ihm verliehen hatte und der Roger sehr amüsierte: der Kelte .
»Zehn Minuten«, unterbrach sie der Sheriff. »Zeit, sich zu verabschieden.«
Roger merkte, wie seine Cousine in ihrer Umarmung ihren Mund vergeblich seinem Ohr zu nähern versuchte, denn er war um einiges größer als sie. In einem beinahe unhörbaren Flüstern sagte sie:
»All die schrecklichen Dinge, die in den Zeitungen stehen, sind Verleumdungen, grässliche Lügen, nicht wahr, Roger?«
Er war so wenig auf diese Frage gefasst gewesen, dass er einige Sekunden brauchte, um zu antworten.
»Ich weiß nicht, was die Zeitungen über mich schreiben, liebe Gee, ich bekomme hier keine. Aber«, er wählte seine Worte sorgfältig, »gewiss sind sie das. Ich möchte, dass du mir eines glaubst und nie vergisst, liebste Gee. Ich habe viele Fehler begangen, ohne Frage. Aber es gibt nichts, dessen ich mich schämen müsste. Weder du noch irgendeiner meiner Freunde muss sich meiner schämen. Glaubst du mir das, Gee?«
»Natürlich glaube ich dir.« Schluchzend legte sie sich beide Hände auf den Mund.
Auf dem Rückweg zur Zelle stiegen Roger die Tränen in die Augen, was er sich vor dem Sheriff nicht anmerken lassen wollte. Wie seltsam, dass ihm jetzt nach Weinen zumute war. Soweit er sich erinnerte, hatte er in diesen letzten Monaten seit seiner Verhaftung kein einziges Mal geweint. Weder bei den Verhören durch Scotland Yard noch während des Prozesses oder bei der Urteilsverkündung. Warum gerade jetzt? Wegen Gertrude. Wegen Gee. Dass sie solche Qualen ausstand, zeugte von ihrer tiefen Zuneigung. Er war also nicht ganz so allein, wie er sich fühlte.
IV
Die Reise den Kongo flussaufwärts, auf die sich der britische Konsul Roger Casement am 5. Juni 1903 begab und die sein Leben verändern sollte, hätte eigentlich ein Jahr zuvor stattfinden sollen. Er hatte dem Foreign Office die Notwendigkeit dieser Expedition nahegelegt, seit er im Jahr 1900, nachdem er in Old Calabar (Nigeria), Lourenço Marques (Mosambik) und São Paolo de Luanda (Angola) tätig gewesen war, offiziell das Amt des britischen Konsuls in Boma – damals kaum mehr als ein größerer Weiler – angetreten hatte. Um tatsächlich über die Situation der Einheimischen im Unabhängigen Staat Kongo berichten zu können, so führte er an, müsse man aus der abgelegenen Hauptstadt in die Urwälder und zu den Stämmen am Mittel- und Oberlauf des Kongos vordringen. Dort fand die Ausbeutung statt, über die er das Foreign Office seit seinen ersten Vorstößen in diese Region informierte. Nach langer Abwägung der politischen Hindernisse, die er als Konsul zwar verstand, die ihm aber trotzdem Widerwillen einflößten – Großbritannien war Verbündeter Belgiens und wollte das Land nicht den Deutschen in die Arme treiben –, ermächtigte ihn das Foreign Office, zu den Dörfern, Stationen, Missionen, Posten, Lagern und Handelsfaktoreien zu reisen, in denen der Kautschuk gewonnen wurde, das schwarze Gold, aus dem inzwischen weltweit Reifen und Stoßstangen von Autos und Lastwagen sowie zahllose andere Industrie- und Haushaltsprodukte hergestellt wurden. Er sollte vor Ort den Vorwürfen auf den Grund gehen, die von der Londoner Gesellschaft zum Schutz der Eingeborenen und einigen baptistischen Kirchen und katholischen
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