Der Traum des Kelten
um seine Befreiungsprinzipien auf die etwa zwanzig Millionen Kongolesen anzuwenden. Zu diesem Zweck hatte der Monarch mit dem schön gekämmten Bart den legendären Stanley eingesetzt, da er mit seinem Gespür für die menschlichen Schwächen zweifellos ahnte, dass der Forscher ebenso zu großen Taten wie zu großer Niedertracht fähig war, wenn die Belohnung seiner Gier entsprach.
Vorgebliches Ziel der Expedition von 1884, bei der Roger sich zum ersten Mal als Forscher erprobte, sollte es sein, die verstreuten Gemeinschaften entlang der Ufer des Ober-, Mittel- und Unterlaufs des Kongos, Tausender Kilometer dichten Dschungels voller Schluchten, Wasserfälle und bewaldeter Hügel, auf das Eintreffen der europäischen Händler und Verwalter vorzubereiten, die von der Internationalen Kongo-Gesellschaft, der Leopold II. vorstand, entsandt werden würden, sobald sie von den übrigen Mächten die Konzession erteilt bekommen hätte. Stanley und seine Begleiter sollten den halbnackten, tätowierten, mit Federn oder Dornen geschmückten, teilweise nur mit einem Penisfutteral aus Bambus bekleideten Stammesoberhäuptern erklären, welche guten Absichten die Europäer zu ihnen führten: Sie würden ihnen helfen, ihre Lebensbedingungen zu verbessern, sie von Plagen wie der tödlichen Schlafkrankheit befreien, ihnen Bildung bringen und ihnen die Augen für die Wahrheiten dieser Welt und des Jenseits öffnen und damit ihren Kindern und Kindeskindern ein achtbares Leben in Freiheit und Gerechtigkeit ermöglichen.
›Ich habe nichts gemerkt, warum habe ich nichts gemerkt‹, dachte Roger. Charlie hatte ihn in alle Decken gehüllt, die im Haus aufzutreiben waren, doch trotz der gleißenden Sonne draußen zitterte er unter seinem Moskitonetz wie Espenlaub. Er war ein Verblendeter gewesen, er hatte sich Erklärungen für Vorkommnisse zusammengereimt, die jeder unparteiische Beobachter als blanken Betrug durchschaut hätte. Denn in allen Dörfern, zu denen die Expedition gelangte, brachte Stanley nach der üblichen Verteilung von Glasperlenketten und anderem Tand und einigen von Dolmetschern (die nicht immer die jeweilige Sprache beherrschten) übersetzten Floskeln die Stammesoberhäupter und Fetischpriester dazu, auf Französisch abgefasste Verträge zu unterschreiben, in denen sie sich verpflichteten, den Beamten, Abgesandten und Angestellten der Internationalen Kongo-Gesellschaft bei der Durchführung ihrer Unternehmungen Lebensmittel, Unterkunft, Führer und Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Sie setzten anstandslos ein X oder sonst ein Gekritzel, Gekleckse, irgendwelche Krähenfüße darunter, ohne die leiseste Ahnung zu haben, was sie da unterzeichneten oder was Unterzeichnen überhaupt bedeutete, vergnügt über die Ketten, Armbänder und den weiteren bunten Zierrat, den sie geschenkt bekommen hatten, und den Schnaps, den Stanley ihnen einschenkte, um auf die getroffene Vereinbarung anzustoßen.
›Sie wissen nicht, was sie tun, aber wir wissen, dass es zu ihrem Wohl ist, das rechtfertigt den Schwindel‹, dachte Roger damals. Wie hätte man es denn sonst angehen sollen? Wie die künftige Kolonisierung legitimieren, wenn man es mit Menschen zu tun hatte, die kein Wort von diesen »Abkommen« verstanden, in denen ihre Zukunft und die ihrer Nachkommen festgelegt wurde? Man musste dieser Unternehmung ein legales Fundament geben, denn der belgische König wollte sie durch Dialog und Überzeugungskraft verwirklicht sehen, nicht wie so viele andere mit Gewalt und Blutvergießen, Invasionen, Mord und Plünderung. War das etwa nicht friedliebend und zivilisiert?
Im Lauf der Jahre – achtzehn waren seit Stanleys Expedition von 1884 vergangen – war Roger zu dem Schluss gelangt, dass der Held seiner Kindheit und Jugend tatsächlich einer der skrupellosesten Schurken war, die der Westen je auf den afrikanischen Kontinent losgelassen hatte. Und trotzdem kam er, wie alle, die unter seinem Befehl gestanden hatten, nicht umhin, sein Charisma anzuerkennen, sein einnehmendes, faszinierendes Wesen und diese Mischung aus Draufgängertum und Kalkül, mit der er sich auf seine abenteuerlichen Unternehmungen begab. Er zog quer durch Afrika und säte dabei einerseits Tod und Verwüstung – plünderte und verbrannte Dörfer, ließ Eingeborene erschießen, zerfetzte die Rücken der Träger mit seiner Peitsche aus Nilpferdhaut –, bahnte jedoch gleichzeitig neue Wege für Handel und Christianisierung in riesigen Gebieten voller Raubtiere,
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