Der Traum des Wolfs
zu tun. Was war sein genauer Zweck? Der Stern schwebte in Nynaeves Sichtfeld.
»Wenn Ihr dieses Zeichen seht, werdet Ihr Euch unverzüglich ruhigen Schrittes dorthin begeben, weder eilig noch zögerlich, und erst dann dürft Ihr die Macht umarmen. Mit dem erforderlichen Gewebe muss sofort begonnen werden, und Ihr dürft dieses Zeichen nicht verlassen, bis es vollendet ist.«
»Erinnert Euch an das, was nicht vergessen werden darf«, murmelte Saerin erneut.
»Nach Vollendung des Gewebes werdet Ihr das Zeichen erneut sehen, es wird Euren Weg markieren«, sagte Rosil, »und Ihr werdet ihn gehen, wieder stetigen Schrittes, ohne Zögern. «
»Erinnert Euch an das, was nicht vergessen werden darf.«
»Einhundert Mal werdet Ihr weben, in der Reihenfolge, die man Euch gelehrt hat und in perfekter Selbstbeherrschung.«
»Erinnert Euch an das, was nicht vergessen werden darf«, murmelte Saerin ein letztes Mal.
Nynaeve fühlte, wie das Gewebe in sie eindrang, so ähnlich wie eine Heilung. Sie zog Kleid und Unterkleid aus, während die anderen Schwestern neben dem Ter’angreal niederknieten und komplizierte Gewebe aus allen Fünf Mächten webten. Sie ließen es hell erstrahlen, und die Farben auf seiner Oberfläche verwandelten sich ständig. Rosil räusperte sich, und Nynaeve gab ihr errötend ihre zusammengefaltete Kleidung, dann nahm sie den Großen Schlangenring ab und legte ihn obendrauf, gefolgt von Lans Ring - den sie für gewöhnlich um den Hals trug.
Rosil nahm die Kleidung entgegen. Die anderen Schwestern waren völlig in ihre Arbeit versunken. Das Ter’angreal leuchtete plötzlich in der Mitte grellweiß, dann fing es an, sich langsam und knirschend zu drehen.
Nynaeve holte tief Luft und machte einen Schritt darauf zu. Sie blieb vor dem Ter’angreal stehen, trat hindurch und …
… wo war sie? Sie runzelte die Stirn. Das sah nicht wie die Zwei Flüsse aus. Sie stand in einem Dorf, das sich aus Hütten zusammensetzte. Links von ihr schlugen Wellen gegen einen Sandstrand, und rechts von ihr folgte das Dorf einer Anhöhe bis zu einer Felsenklippe. In der Ferne erhob sich ein hoher Berg.
Eine Art Insel. Die Luft war schwül, die Brise friedlich. Zwischen den Hütten gingen Menschen umher und grüßten einander freundlich. Ein paar blieben stehen und starrten Nynaeve an. Sie schaute an sich herunter und wurde sich das erste Mal bewusst, dass sie nackt war. Sie errötete. Wer hatte ihr die Kleidung abgenommen? Wenn sie denjenigen fand, würde sie ihm den Hintern so sehr versohlen, dass er wochenlang nicht sitzen konnte!
An einer Wäscheleine in der Nähe hing ein Gewand. Sie zwang sich, in aller Gemütsruhe hinzugehen und es sich zu nehmen. Sie würde den Besitzer finden und bezahlen. Sie konnte ja wohl kaum ohne einen Faden am Leib herumlaufen. Sie zog sich das Kleid über den Kopf.
Plötzlich bebte der Boden. Die sanften Wellen wurden lauter und krachten heftig gegen den Strand. Nynaeve keuchte auf und hielt sich an dem Pfosten der Wäscheleine fest. In der Höhe fing der Berg an, Rauch und Asche auszuspucken.
Nynaeve umklammerte den Pfosten, als die Klippe auseinanderbrach und Felsbrocken den Hang hinunterrollten. Leute schrien. Sie musste etwas tun! Noch während sie sich umsah, entdeckte sie einen in den Boden gegrabenen sechszackigen Stern. Am liebsten wäre sie darauf zugelaufen, aber sie wusste, dass sie in aller Gelassenheit gehen musste.
Die Ruhe zu bewahren fiel schwer. Ihr Herz pochte bei jedem Schritt entsetzt. Sie würde zerschmettert werden! Sie erreichte den Stern in dem Moment, in dem ein Steinregen herabprasselte und Hütten zerschmetterte. Trotz ihrer Furcht erschuf Nynaeve schnell das richtige Gewebe - ein Gewebe aus Luft, das eine Mauer bildete. Sie baute sie vor sich auf, und die Steine donnerten gegen die Luft und wurden zurückgeworfen.
Im Dorf gab es Verletzte. Sie verließ den Stern, um zu helfen, aber da sah sie den gleichen sechszackigen Stern aus Schilf geflochten von der Tür einer Hütte hängen. Sie zögerte.
Sie durfte nicht versagen. Sie begab sich zu der Hütte und trat über die Schwelle.
Dann erstarrte sie. Was tat sie in dieser dunklen, eiskalten Höhle? Und warum trug sie dieses Kleid aus dicken, kratzigen Fasern?
Sie hatte das erste der hundert Gewebe vollbracht. Das wusste sie, aber sonst nichts. Stirnrunzelnd durchquerte sie die Höhle. Durch Spalten in der Decke fiel Licht, und voraus sah sie einen größeren Lichtschein. Der Ausgang.
Sie verließ die Höhle
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