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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Grabsteine, wurden von der Sonne in seinem Rücken deutlich herausgehoben. Colin blickte über die linke Schulter den Kai entlang. Robert war fünfzig Meter entfernt und ging ohne Eile auf ihn zu. Colin wandte sich nach hinten um. Eine schmale Geschäftsstraße, kaum mehr als eine Gasse, unterbrach die Reihe verwitterter Häuser. Sie wand sich dahin unter Ladenmarkisen und Wäschestücken, die wie Flaggentücher von winzigen schmiedeeisernen Balkonen hingen, und verschwand verführerisch im Schatten. Sie wollte erforscht sein, aber allein erforscht, ohne Rücksprache mit oder Verpflichtungen gegenüber einem Begleiter. Jetzt dort hinunter zu gehen, als sei man völlig frei, unbelastet von mühsamen Psychospielen, in Muße offen und aufmerksam für die Wahrnehmung sein zu können, für die Welt, deren atemberaubendes, unablässiges Anbranden gegen die Sinne so leicht und gewohnheitsmäßig ignoriert wurde, übertönt zugunsten ungeprüfter Ideale von persönlicher Verantwortung, Tüchtigkeit und Staatsbürgerschaft, jetzt hier hinunterzugehen, einfach davonzulaufen, im Schatten zu verschmelzen, das wäre so leicht.
    Robert räusperte sich leise. Er stand ein paar Schritte links von Colin. Colin wandte sich wieder zum Meer zurück und sagte leichthin, umgänglich: »Gelungene Ferien erkennt man daran, daß man wieder nach Haus möchte.«
    Es dauerte eine volle Minute, ehe Robert etwas sagte, und als er es tat, schwang in seiner Stimme eine Spur Bedauern. »Es ist Zeit zu gehen«, sagte er.
    Als Mary eintrat und Caroline die Tür fest hinter ihr zu machte, schien sich die Größe der Galerie verdoppelt zu haben. Es waren praktisch alle Möbel und Bilder, Teppiche, Kronleuchter und Wandbehänge verschwunden. Wo der große, polierte Tisch gestanden hatte, waren jetzt drei Kisten, die eine dicke Sperrholzplatte trugen, auf der verstreute Speisereste lagen. Um diesen provisorischen Tisch standen vier Stühle. Der Fußboden war eine offene Marmorebene, und als Mary ein paar Schritte in den Raum ging, klappten und hallten ihre Sandalen laut nach. An Erwähnenswertem war da sonst nur noch Roberts Kredenz, sein Schrein. Hinter Mary, direkt in der Tür, standen zwei Koffer. Der Balkon quoll noch immer von Pflanzen über, doch Möbel gab es auch dort nicht mehr.
    Caroline, die noch immer bei der Tür stand, strich sich mit den Handflächen das Kleid glatt. »Normalerweise ziehe ich mich nicht wie eine Stationsschwester an«, sagte sie, »aber wenn soviel zu tun ist, fühle ich mich in Weiß einfach tüchtiger.«
    Mary lächelte. »Ich bin in jeder Farbe untüchtig.«
    Anderswo wäre Caroline vielleicht schwer wiederzuerkennen gewesen. Die vorher so straff zurückgekämmten Haare waren etwas derangiert; lose Strähnen machten ihr Gesicht weicher, das in den dazwischenliegenden Tagen seine Anonymität verloren hatte. Besonders die früher so dünnen und blutleeren Lippen waren voll, beinahe sinnlich. Die lange Gerade ihrer Nase, die davor nur wie die eben noch akzeptable Minimallösung eines Konstruktionsproblems gewirkt hatte, verriet jetzt Würde. Die Augen hatten ihren harten, besessenen Glanz verloren und wirkten mitteilsamer, verständnisvoller. Nur ihre Haut blieb unverändert, farblos, nicht einmal blaß, ein tonloses Grau.
    »Sie sehen gut aus«, sagte Mary.
    Caroline löste sich mit dem gleichen, qualvollen, unbeholfenen Gang von der Tür und nahm Marys Hände in ihre. »Ich bin froh, daß Sie gekommen sind«, sagte sie mit eindringlicher Gastlichkeit und drückte bei »froh« und »gekommen« fest zu. »Wir wußten, Colin würde sein Versprechen halten.«
    Sie wollte die Hände wegziehen, doch Mary hielt sie fest. »So richtig geplant war unser Besuch nicht, aber so ganz zufällig nun auch wieder nicht. Ich wollte mit Ihnen reden.« Caroline wahrte ihr Lächeln, doch ihre Hände wogen schwer in Marys, die noch immer nicht loslassen wollte. Sie nickte bei Marys Worten und blickte zu Boden. »Ich habe über Sie nachgedacht. Ich möchte Sie einiges fragen.«
    »Na schön«, sagte Caroline nach einer Weile, »gehen wir in die Küche. Ich koche uns einen Kräutertee.« Sie machte ihre Hände los, diesmal mit einem entschiedenen Ruck, mimte wieder die eifrige Art der seriösen Gastgeberin und strahlte Mary an, ehe sie sich brüsk umdrehte und davonhinkte. Die Küche befand sich am selben Ende der Galerie wie die Wohnungstür. Sie war klein, aber blitzblank, mit vielen Schränken und Schubladen und weißen Plastikflächen. Das

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