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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Schulter und sagte: »Vieleicht.« Sie drehte sich nicht um, um ihn anzusehen. Doch als sich das Boot auf den Landungssteg der nächsten Anlegestelle zuschob und die Einmannbesatzung bereits das Tau um den Poller wickelte, drehte sie sich rasch um und küßte ihn leicht auf die Lippen. Die Metallbarriere wurde gehoben, und ein paar Passagiere gingen an Land. Es entstand eine flüchtige Pause, in der alle um sie her mitten in der Bewegung erstarrt zu sein schienen, wie Kinder, die »Ochs am Berg« spielten. Der Lotse hatte seinen Unterarm auf das Steuer gelegt und sah zu seiner Einmannbesatzung hinüber. Sie hatte das baumelnde Tauende aufgenommen und war dabei, es vom Poller zu spulen. Die neuen Passagiere hatten ihre Plätze gefunden, doch das übliche Geplauder war noch nicht im Gange. Colin und Mary gingen drei Schritte, vom abgewetzten Ölanstrich des Decks auf die rissigen, geschwärzten Bohlen des Landungsstegs, und sofort rief der Lotse seiner Einmannbesatzung scharf zu, die nickte und das Tau klarholte. Aus dem Bootsinnern, dem stickigen überdeckten Teil, ertönte plötzliches Gelächter und das Geräusch von mehreren, gleichzeitig redenden Leuten. Colin und Mary gingen langsam und schweigend den Kai entlang. Der Ausblick, der sich ihnen bot, wenn sie ab und zu einen Blick nach links warfen, wurde durch eigenartige Anordnungen von Bäumen, Häusern und Mauern verstellt, aber einmal mußte ja eine Lücke kommen, und sie merkten, daß sie beide stehengeblieben waren, um an der Ecke einer hohen Transformatorenstation vorbei, zwischen zwei Ästen einer ausgewachsenen Platane hindurch auf einen vertrauten, blumenbehängten Balkon zu starren, von wo eine kleine weißgekleidete Gestalt zuerst herüberstarrte und dann zu winken begann. Über das sanfte Pochen des davonfahrenden Bootes hinweg hörten sie Caroline ihnen Zurufen. Immer noch sorgfältig den Blick des anderen meidend, gingen sie zu einer Gasse zu ihrer Linken, die sie zum Haus bringen würde. Sie hielten sich nicht an den Händen.
Neun
    Ein Blick hoch ins Treppenhaus und die Silhouette eines Kopfes bestätigte, daß Robert am obersten Treppenabsatz auf sie wartete. Sie stiegen schweigend hinauf, Colin immer ein oder zwei Stufen vor Mary. Oben hörten sie Robert sich räuspern und etwas sagen. Auch Caroline wartete dort. Als sie zur letzten Treppenflucht kamen, wurde Colin langsamer, und hinter dem Rücken suchte seine Hand die Marys, doch Robert war ihnen zur Begrüßung entgegengekommen und schlang mit einem resignierten Willkommenslächeln, das sich deutlich von seiner sonst geräuschvollen Art unterschied, den Arm um Colins Schulter, so als wollte er ihm die verbleibenden Stufen hochhelfen, wobei er Mary auffällig den Rücken kehrte. Vorn stand, unbeholfen in den Wohnungseingang gestützt, Caroline in einem weißen Kleid mit viereckigen, praktischen Taschen, ihr Lächeln war ein waagrechter Strich stiller Befriedigung. Ihre Begrüßung war innig, doch maßvoll, sittsam; Colin wurde zu Caroline geschoben, die ihm die Wange hinhielt und ihn gleichzeitig einen Augenblick lang leicht bei der Hand nahm. Die ganze Zeit behielt Robert, der einen dunklen Anzug mit Weste, ein weißes Hemd, allerdings ohne Krawatte, und schwarze Stiefel mit spitzen Absätzen trug, seine Hand auf Colins Schulter, und er gab ihn erst frei, als er sich schließlich Mary zuwandte, vor der er eine angedeutete, ironische Verbeugung machte, und ihre Hand hielt, bis sie sich ihm entzog, um ihn herumging und mit Caroline Küsse, nicht mehr als ein flüchtiges Streifen der Wangen, tauschte. Sie standen jetzt in einer dichten Traube an der Tür, doch niemand ging hinein.
    »Das Boot hat uns vom Strand zu dieser Seite hier gefahren«, erklärte Mary, »und da dachten wir, wir könnten mal vorbeischauen.«
    »Wir hatten Sie schon eher erwartet«, sagte Robert. Er legte seine Hand auf Marys Arm und redete mit ihr so, als seien sie allein. »Colin hat meiner Frau ein Versprechen gegeben, das er anscheinend vergessen hat. Ich habe heute morgen eine Nachricht in Ihrem Hotel hinterlassen.«
    Auch Caroline wandte sich ausschließlich an Mary. »Wissen Sie, wir fahren nämlich weg. Wir wollten Sie auf keinen Fall verpassen.«
    »Warum?« sagte Colin plötzlich.
    Robert und Caroline lächelten, und Mary überbrückte diese kleine Taktlosigkeit und fragte höflich: »Und wohin fahren Sie?«
    Caroline sah Robert an, der einen Schritt von der Gruppe zurücktrat und die Hand auf die Mauer legte. »Oh,

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