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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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zweiten Stock wild mit Plakaten beklebt hatte. Die meisten An- und Verkündigungen stammten von Feministinnen und der extremen Linken, ein paar von lokalen Gruppen, die gegen den Abriß und die bauliche Neugestaltung des Gebäudes opponierten. Hoch oben, über dem zweiten Stock, war eine Holztafel, die in leuchtendroter Schrift den Namen der Ladenkette verkündete, die das Bauwerk erworben hatte, und dann in englischer Sprache und in Anführungszeichen: »Das Geschäft, in dem Sie König sind!« Vor dem prächtigen Eingang standen wie eine verfrühte Kundenschlange Plastikmüllsäcke aufgereiht. Die Hände in die Hüften gestemmt, spähte Colin die eine Straße hinunter und ging dann hinüber, um die andere hinunterzuspähen. »Wir hätten die Stadtpläne mitnehmen sollen.«
    Mary war die ersten Stufen zum Palast hochgestiegen und las die Plakate. »Die Frauen sind hier radikaler«, sagte sie über die Schulter, »und besser organisiert.«
    Colin war zurückgetreten, um die beiden Straßen zu vergleichen. Sie verliefen ein längeres Stück weit gerade und bogen dann auseinander. »Sie haben auch mehr zu kämpfen«, sagte er. »Wir sind hier schon mal langgekommen, aber erinnerst du dich noch, wie es weiterging?« Mary übersetzte mit Mühe eine weitschweifige Proklamation. »Wie ging es weiter?« sagte Colin etwas lauter.
    Stirnrunzelnd fuhr Mary mit dem Zeigefinger die fettgedruckten Zeilen nach, und als sie fertig war, schrie sie triumphierend auf. Sie drehte sich um und lächelte Colin an. »Sie fordern für überführte Vergewaltiger die Kastration!«
    Er war ein paar Schritte gegangen, um die rechte Straße besser sehen zu können. »Und für Diebstahl abgehackte Hände? Sieh mal, ich bin sicher, wir sind auf dem Weg zu dieser Bar an dem Trinkbrunnen hier schon mal vorbeigekommen.«
    Mary wandte sich wieder dem Plakat zu. »Nein. Das ist eine Taktik. So bringt man die Leute dazu, Vergewaltigung als Verbrechen ernster zu nehmen.«
    Colin ging wieder ein paar Schritte, stellte sich breitbeinig hin und blickte die linke Straße hinunter. Auch dort gab es einen Trinkbrunnen. »So«, sagte er gereizt, »bringt man die Leute dazu, Feministinnen weniger ernst zu nehmen.«
    Mary verschränkte die Arme und setzte sich nach kurzem Nachdenken langsam die rechte Abzweigung hinunter in Bewegung. Sie hatte ihren gemächlichen, präzisen Schritt wieder aufgenommen. »Das Hängen nehmen die Leute ernst genug«, sagte sie. »Leben um Leben.«
    Unbehaglich verfolgte Colin, wie sie davonging. »Wart mal, Mary«, rief er ihr hinterher. »Bist du sicher, daß das richtig ist?« Sie nickte, ohne sich umzudrehen, ln weiter Ferne, einen Moment lang herausgehoben von einer Straßenlaterne, kam ihnen eine Gestalt entgegen. Hierdurch irgendwie ermutigt, holte Colin Mary ein.
    Auch dies war eine teure Straße, doch ihre Geschäfte wirkten dicht zusammengedrängt und exklusiv, dem Verkauf von Einzelstücken gewidmet - in einem Geschäft war es eine goldgerahmte Landschaft in rissigen, schmutzigtrüben Ölfarben, in einem anderen ein handgearbeiteter Schuh, ein Stück weiter ein einzelnes, auf einen Samtsockel montiertes Kameraobjektiv. Anders als die meisten in der Stadt, funktionierte der Trinkbrunnen tatsächlich. Jahrhundertelange Benutzung hatte den dunklen Stein der runden Sockelstufe ausgetreten und den Rand des großen Beckens blankgescheuert. Mary brachte den Kopf unter den angelaufenen Messinghahn und trank. »Das Wasser hier«, sagte sie zwischen den einzelnen Schlucken, »schmeckt nach Fisch.« Colin starrte geradeaus, wartete darauf, die näherkommende Gestalt unter einem anderen Laternenpfahl wieder auftauchen zu sehen. Aber da war nichts, außer vielleicht einer raschen Bewegung bei einem entfernten Eingang, und das konnte eine Katze gewesen sein.
    Ihre letzte Mahlzeit, je einen halben Teller mit gebratenem Fisch, hatten sie vor zwölf Stunden zu sich genommen. Colin faßte nach Marys Hand. »Kannst du dich erinnern, ob er noch etwas anderes außer Hot-dogs verkauft?«
    »Schokolade? Nüsse?«
    Ihr Tempo beschleunigte sich, und ihre Schritte hallten lärmend auf dem Kopfsteinpflaster nach und machten das Geräusch von nur einem Paar Schuhe. »Eine der Speisehochburgen der Welt«, sagte Colin, »und wir laufen drei Kilometer für Hot-dogs.«
    »Wir machen doch Ferien«, erinnerte ihn Mary. »Vergiß das nicht.«
    Er klatschte sich mit der freien Hand an die Stirn. »Natürlich. Ich verliere mich zu leicht in Einzelheiten wie

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