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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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nicht. Mary nannte Alter und Geschlecht ihrer Kinder. Sie gaben beide ihre Berufe an. Dann begannen sie, trotz des mangelnden Essens, aber mit Hilfe des Weins, das für Touristen einzigartige Vergnügen zu erfahren, in einem Lokal ohne Touristen zu sein, eine Entdeckung zu machen, etwas Echtes zu finden. Sie entspannten sich, sie ergaben sich dem Lärm und dem Rauch; sie wiederum stellten jetzt die ernsthaften, gespannten Fragen von Touristen, denen es endlich vergönnt war, mit einem authentischen Einwohner zu sprechen, In weniger als zwanzig Minuten hatten sie die Flasche geleert. Robert erzählte ihnen, daß er hier Geschäftsinteressen vertrete, daß er in London aufgewachsen und daß seine Frau Kanadierin sei. Als Mary fragte, wie er seine Frau kennengelernt habe, sagte Robert, es sei unmöglich, das zu erklären, ohne zuerst seine Schwestern und seine Mutter zu beschreiben, und dies wiederum ließe sich nur anhand seines Vaters tun. Es war klar, daß er Anstalten traf, ihnen seine Lebensgeschichte zu erzählen. »Ha ha ha« schraubte sich zu einem weiteren Crescendo hoch, und an einem Tisch in der Nähe der Musikbox vergrub ein Mann mit gelockten Haaren das Gesicht in den Händen. Robert rief zur Bar hinüber nach der nächsten Flasche Wein. Colin knackte die Grissini entzwei und teilte sie mit Mary.
Drei
    Das Lied endete, und ringsum in der Bar begannen Gespräche, leise zuerst, ein angenehmes Gesumm und Gemurmel der Vokale und Konsonanten einer fremden Sprache; schlichte Bemerkungen hatten einzelne Worte oder billigende Geräusche zur Reaktion; dann Pausen, willkürlich und kontrapunktisch, denen kompliziertere Bemerkungen mit größerer Lautstärke folgten und diesen wiederum ausgeklügeltere Antworten. Es dauerte keine Minute, da waren etliche anscheinend heftige Diskussionen im Gange, so als hätte man verschiedene Streitfragen ausgegeben und die entsprechenden Kontrahenten zusammengruppiert. Wenn die Musikbox jetzt gespielt hätte, würde sie keiner gehört haben.
    Robert, der sein Glas anstarrte, das er mit beiden Händen auf den Tisch drückte, schien den Atem anzuhalten, und das machte Colin und Mary, die ihn genau musterten, das Atmen schwer. Er wirkte älter als draußen auf der Straße. Das schiefe elektrische Licht ließ eine Reihe fast geometrischer Linien hervortreten, die wie ein Gitternetz über seinem Gesicht lagen. Zwei Linien, die sich von den Nasenlöchern zu den Mundwinkeln zogen, bildeten ein beinahe vollkommenes Dreieck. Auf seiner Stirn verliefen parallele Furchen, und zwei Zentimeter darunter stand, genau im rechten Winkel, eine einzelne Linie bei seinem Nasenbein, eine tiefe Fleischfalte. Er nickte langsam vor sich hin, und als er ausatmete, erschlafften seine massigen Schultern. Mary und Colin beugten sich vor, um die einleitenden Worte seiner Geschichte zu verstehen.
    »Mein Vater war sein ganzes Leben lang Diplomat, und wir lebten viele, viele Jahre in London, in Knightsbridge. Aber ich war ein fauler Junge« - Robert lächelte »und mein Englisch ist noch immer nicht perfekt.« Er machte eine Pause, als warte er auf Widerspruch. »Mein Vater war ein großer Mann. Ich war sein jüngstes Kind und sein einziger Sohn. Wenn er sich hinsetzte, saß er so« - Robert nahm seine vorige straffe und aufrechte Haltung wieder ein und legte die Hände eckig auf die Knie. »Mein Vater trug sein ganzes Leben lang einen Schnurrbart, so« - Robert maß mit Zeigefinger und Daumen unter seiner Nase drei Zentimeter ab -, »und als er grau wurde, benutzte er eine kleine Bürste, um ihn schwarz zu machen, so eine, wie sie Damen für die Augen benutzen. Wimperntusche.
    Alle fürchteten sich vor ihm. Meine Mutter, meine vier Schwestern, sogar der Botschafter fürchtete sich vor meinem Vater. Wenn er die Stirn runzelte, brachte keiner mehr einen Ton heraus. Bei Tisch durfte man nur reden, wenn man vorher von meinem Vater angesprochen wurde.« Robert begann seine Stimme über den Lärm ringsum zu erheben. »Jeden Abend, auch wenn ein Empfang bevorstand und meine Mutter angekleidet werden mußte, hatten wir mit geradem Rücken stillzusitzen und meinem Vater beim Vorlesen zuzuhören.
    Jeden Morgen stand er um sechs Uhr auf und ging ins Bad, um sich zu rasieren. Bevor er nicht fertig war, durfte niemand aufstehen. Als ich ein kleiner Junge war, stand ich immer als nächster auf, hurtig, und ich ging ins Badezimmer, um ihn zu riechen. Verzeihen Sie, er hinterließ einen entsetzlichen Geruch, doch er wurde

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