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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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der großen Residenz an der Straßengabelung angekommen. Colin brachte Robert zum Stehen und riß seine Hand los. »Entschuldigung«, sagte Robert. Auch Mary war stehengeblieben und studierte wieder die Plakate. Robert folgte ihrem Blick zu einer kruden, mit roter Farbe ausgeführten Schablone-Zeichnung, die eine geballte Faust im Inneren des Zeichens zeigte, mit dem die Ornithologen das Weibchen der Spezies markierten. Er gab sich wieder entschuldigend und schien für alles, was sie lesen konnten, persönlich die Verantwortung zu übernehmen. »Das sind Frauen, die keinen Mann finden. Sie wollen alles zerstören, was gut ist zwischen Männern und Frauen.« Er setzte sachlich hinzu: »Sie sind zu häßlich.« Mary betrachtete ihn wie ein Gesicht im Fernsehen.
    »So«, sagte Colin, »darf ich vorstellen, die Gegenpartei.«
    Sie lächelte beiden lieb zu. »Auf gehts zum guten Essen«, sagte sie, gerade als Robert auf ein anderes Plakat wies und sich anschickte weiterzureden.
    Sie nahmen die Gabelung linkerhand und gingen zehn Minuten, in denen Roberts geräuschvolle Versuche, ein Gespräch zu beginnen, auf Schweigen stießen. Mary war selbstversunken - sie ging wieder mit verschränkten Armen -, Colin eine Spur feindselig - er wahrte Abstand zu Robert. Sie bogen in eine Gasse, die sich über eine Reihe ausgetretener Stufen absenkte zu einem winzigen Platz, keine zehn Meter im Durchmesser, auf den ein halbes Dutzend kleinerer Durchgänge mündeten. »Da unten«, sagte Robert, »wohne ich. Aber es ist zu spät, um Sie mitzunehmen. Meine Frau wird schon im Bett sein.«
    Sie bogen noch öfters rechts und links ab, gingen zwischen fünf Stockwerke hohen baufälligen Häusern und verrammelten Lebensmittelgeschäften hindurch, vor denen sich Gemüse und Obst in hölzernen Lattenkisten türmten. Ein Ladeninhaber mit umgebundener Schürze erschien mit einem Karren voller Kisten und rief Robert etwas zu, der lachte und den Kopf schüttelte und die Hand hob. Als sie einen hellerleuchteten Eingang erreichten, teilte Robert für Mary die vergilbten Streifen eines Plastiktürvorhangs. Er behielt seine Hand auf Colins Schulter, als sie die steile Treppe zu einer engen und gerammelt vollen Bar hinunterstiegen.
    Eine Anzahl junger Männer, die ähnlich wie Robert gekleidet waren, saß auf Barhockern am Tresen, und etliche mehr gruppierten sich in identischen Posen - alle hatten das Gewicht auf einen Fuß verlagert - um eine bauchige Musikbox mit üppigen Rundungen und Chromschnörkeln. Ein dunkles und durchdringendes Blau entströmte der Rückfront des Automaten und verlieh den Gesichtern der zweiten Gruppe ein käsiges Aussehen. Jeder schien zu rauchen oder seine Zigarette mit flinken, entschiedenen Stößen auszudrücken oder den Hals reckend und die Lippen schürzend um Feuer zu bitten. Da sie alle knappsitzende Kleidung trugen, mußten sie in der einen Hand die Zigarette und in der anderen das Feuerzeug und die Schachtel halten. Das Lied, dem sie alle zuhörten - es sprach tatsächlich niemand -, war laut und munter-sentimental, mit voller Orchesterbegleitung, und der Mann, der es sang, hielt in seiner Stimme ein spezielles Aufschluchzen für den häufigen Refrain parat, dessen Kernstück ein sardonisches »ha ha ha« war, und an dieser Stelle hoben mehrere der jungen Männer ihre Zigaretten und stimmten, den Blick der anderen meidend, mit einem eigenen Stirnrunzeln und Aufschluchzen ein.
    »Gott sei Dank bin ich kein Mann«, sagte Mary und versuchte, Colins Hand zu fassen. Robert hatte sie an einen Tisch geführt und war zur Bar gegangen. Colin steckte die Hände in die Taschen, kippte seinen Stuhl zurück und starrte auf die Musikbox. »Na komm«, sagte Mary und knuffte seinen Arm. »Das war doch bloß ein Witz.«
    Das Lied endete in einem triumphalen sinfonischen Höhepunkt und begann sofort aufs neue. Hinter der Bar zerschellte Glas auf dem Fußboden, und es folgte ein kurzer Schwall langsamen Händeklatschens.
    Robert kam endlich mit einer großen, unetikettierten Flasche Rotwein, drei Gläsern und zwei abgegriffenen Grissini wieder, von denen der eine in Stücke gebrochen war. »Heute«, verkündete er stolz über das Getöse hinweg, »ist der Koch krank.« Mit einem Zwinkern zu Colin setzte er sich hin und füllte die Gläser.
    Robert begann ihnen Fragen zu stellen, und zuerst antworteten sie widerwillig. Sie erzählten ihm, wie sie hießen, daß sie nicht verheiratet waren, daß sie nicht zusammenlebten, zumindest zur Zeit

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