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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Hunger und Durst. Wir machen doch Ferien.«
    Sie lösten die Hände, und im Weitergehen summte Colin vor sich hin. Die Straße wurde enger, und die Geschäfte waren hohen, dunklen Mauern gewichen, die in unregelmäßigen Abständen von weit zurückgesetzten Eingängen unterbrochen wurden und von Fenstern, klein und quadratisch, hoch oben angebracht und mit Eisenstäben vergittert.
    »Das ist die Glasfabrik«, sagte Mary mit Befriedigung. »An unserem ersten Tag haben wir hierherzukommen versucht.« Sie wurden langsamer, blieben aber nicht stehen.
    Colin sagte: »Dann müssen wir auf der anderen Seite gewesen sein, denn hier war ich noch nie.«
    »Wir haben vor einer dieser Türen angestanden.«
    Colin wirbelte zu ihr herum, ungläubig, gereizt. »Das war nicht an unserem ersten Tag«, sagte er laut. »Jetzt bringst du alles total durcheinander. Als wir die Warteschlange sahen, beschlossen wir, an den Strand zu gehen, und da waren wir erst am dritten Tag.« Colin war stehengeblieben, um das zu sagen, doch Mary ging weiter. Er holte sie mit hüpfenden Schritten ein.
    »Es könnte am dritten Tag gewesen sein«, sagte sie wie zu sich selbst, »aber hier waren wir.« Sie zeigte auf einen mehrere Meter vor ihnen liegenden Eingang, und wie heraufbeschworen trat eine gedrungene Gestalt aus dem Dunkel in die Lichtlache einer Straßenlaterne und versperrte ihnen den Weg.
    »Da schau mal, was du angerichtet hast«, witzelte Colin, und Mary lachte.
    Der Mann lachte auch und streckte die Hand aus. »Sind Sie Touristen?« fragte er in befangen-präzisem Englisch und gab sich freudestrahlend selbst Antwort. »Aber natürlich.«
    Mary blieb direkt vor ihm stehen und sagte: »Wir suchen ein Lokal, wo wir etwas zu essen bekommen können.«
    Colin schob sich unterdessen an dem Mann vorbei. »Hör mal, wir brauchen uns nicht zu rechtfertigen«, sagte er rasch zu Mary. Noch während er das sagte, packte ihn der Mann herzlich am Handgelenk und streckte seine andere Hand nach Mary aus. Sie verschränkte die Arme und lächelte.
    »Es ist schrecklich spät«, sagte der Mann. »In dieser Richtung gibt es nichts, aber hier entlang kann ich Ihnen ein Lokal zeigen, ein sehr gutes Lokal.« Er grinste und nickte in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
    Er war kleiner als Colin, doch seine Arme waren außergewöhnlich lang und muskulös. Auch seine Hände waren groß, die Handrücken mit verfilztem Haar bedeckt. Er trug ein knappsitzendes, schwarzes Hemd aus einer halbdurchsichtigen Kunstfaser, das in einem exakten V fast bis zum Hosenbund aufgeknöpft war. An einer Kette um seinen Hals hing eine goldene Rasierklingenimitation, die auf dem dichten Pelz der Brustbehaarung ein wenig schräg auflag. Über der Schulter trug er eine Kamera. Ein empfindlich süßer Aftershaveduft erfüllte die enge Straße.
    »Hören Sie«, sagte Colin und versuchte, sein Handgelenk loszubekommen, ohne heftig zu wirken, »wir wissen, daß es dort entlang ein Lokal gibt.« Der Griff war locker, doch beharrlich, nur eine Schlinge aus Finger und Daumen um Colins Handgelenk.
    Der Mann pumpte seine Lungen voll und schien um einige Zentimeter zu wachsen. »Es hat alles geschlossen«, verkündete er. »Sogar der Hot-dog- Stand.« Er wandte sich mit einem Augenzwinkern an Mary. »Ich heiße Robert.« Mary schüttelte ihm die Hand, und Robert begann, sie die Straße hinunter zurückzuziehen. »Bitte«, beharrte er. »Ich kenne genau das richtige Lokal.«
    Mit vieler Mühe brachten Colin und Mary Robert nach etlichen Schritten zum Halt, und sie standen dichtzusammengedrängt da und atmeten hörbar.
    Mary sprach wie zu einem Kind. »Robert, lassen Sie meine Hand los.« Er gab sie sofort frei und machte eine kleine Verbeugung.
    Colin sagte: »Und mich lassen Sie besser auch los.«
    Doch Robert erklärte Mary entschuldigend: »Ich möchte Ihnen behilflich sein. Ich kann Sie zu einem sehr guten Lokal führen.« Sie brachen wieder auf.
    » Zerren muß man uns zu einem guten Essen nicht«, sagte Mary, und Robert nickte. Er faßte sich an die Stirn. »Ich, ich bin...«
    »Augenblick mal«, unterbrach Colin.
    »... immer ganz scharf darauf, mein Englisch zu üben. Zu scharf vielleicht. Ich habe es einmal perfekt gesprochen. Hier entlang, bitte.« Mary war bereits weiter gegangen. Robert und Colin folgten.
    »Mary«, rief Colin.
    »Englisch«, sagte Robert, »ist eine wunderschöne Sprache, voller Mißverständnisse.«
    Mary lächelte über die Schulter hinweg. Sie waren erneut bei

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