Der Trotzkopf
sein.«
Ilse strahlte vor Wonne. Der Gedanke war auch zu verlockend, als daß sie noch länger Bedenken tragen sollte.
»Das ist zu himmlisch!« rief sie so laut, daß Nellie ihr die Finger auf den Mund legte. »Ich ziehe meine Blouse und den blauen Rock dazu an und steige hinauf in das grüne Blätterdach. Es ist himmlisch, Nellie!«
Und sie ergriff die Freundin am Arme und tanzte mit ihr durch das Zimmer.
»O, du bist einer Engel! du kluge Ilse! Wenn wir nur erst Nacht hätten!«
Ilse stand schon wieder am Fenster und warf prüfende Blicke in den Baum. »Siehst du, auf diesen Zweig steige ich zuerst,« sagte sie ganz erregt, »und dann auf den dort, – es hängen drei herrliche Aepfel daran, – die pflücke ich zuerst und werfe sie dir zu, – dann geht es höher hinauf bis an Melanies und Orlas Stubenfenster, – sie lassen es immer offen stehen des Nachts – dann stecke ich den Kopf hinein und rufe: Gute Nacht!«
»Ilse!« rief Nellie entsetzt, »du darfst der Unsinn nicht thun! Gieb dein’ Hand darauf!«
»Es war nur Scherz,« entgegnete Ilse. »Sei ohne Sorge, Nellie, ich werde ganz artig und still sein, niemand soll von unsrem entzückenden Abenteuer erfahren!« –
Die Zeit verging den beiden Mädchen wie mit Schneckenpost. Ilse, die sich wenig verstellen konnte, war während des Abendessens ganz besonders lustig und aufgeregt.
»Du siehst so unternehmend und fröhlich aus,« bemerkte Fräulein Güssow, »hast du eine gute Nachricht aus der Heimat erhalten?«
Ilse wurde rot und fühlte sich wie ertappt. Ein Glück für sie, daß die Lehrerin ganz arglos die Bemerkung machte und gar nicht weiter auf sie achtete, vielleicht wäre ihr doch die verräterische Röte aufgefallen.
Endlich, endlich, war alles still im Hause. Die Runde durch sämtliche Schlafgemächer war gemacht, und Fräulein Güssow war bereits in ihr Zimmer zurückgekehrt.
Nellie saß in ihrem Bett und lauschte. Sie hatte unten die Thür sich schließen hören, wartete noch eine kleine Weile, dann erhob sie sich und glitt wie ein Geist durch das Zimmer und lehnte sich weit zum Fenster hinaus.
»Was machst du?« fragte Ilse.
»Ich will sehen, ob Fräulein Güssow noch Licht in sein’ Schlafstube hat –« flüsterte sie. »Noch ist hell unten, – immer noch – –«
»Soll ich aufstehen?« fragte Ilse.
»Nein, du sollst dir ganz ruhig halten und nicht so laut sprechen. Sie hat noch immer hell. Wie langweilig! Was sie nur anfangt! Warum geht sie nicht in ihr Bett und macht die Auge zu.«
Sie beugte sich weit zum Fenster hinaus und sah unverwandt auf die seitwärts liegenden, noch immer erleuchteten Fenster. Im Flüstertone rief sie Ilse ihre Bemerkungen zu. Plötzlich fuhr sie schnell mit dem Kopfe zurück und legte den Finger auf den Mund.
»Sei ganz still, Ilse, rühr’ dir nicht,« sagte sie dann, sich auf den Zehen zu derselben heranschleichend, »sie hat eben der Kopf zum Fenster ausgesteckt und sieht in der Mond. Beinah’ hat sie mir erblickt.«
Nach einem kleinen Weilchen hörte sie das Fenster schließen und als Nellie vorsichtig hinunter blickte, war das Licht gelöscht.
»Jetzt ist die große Augenblick gekommen,« wandte sie sich in pathetischem Tone an Ilse und streckte die Hand aus, »erheben Sie sich, mein Fräulein, und gehen Sie an das großes Werk!«
Ilse war so aufgeregt durch den Gedanken an das nächtliche Abenteuer, daß sie gar nicht bemerkte, wie urkomisch Nellie aussah, als sie in ihrem langen Nachtgewande, den Arm weit ausgestreckt, so vor ihr stand.
Eilig erhob sie sich und begann sich anzukleiden. Das war bald geschehen, da das Blousenkleid, und was sie sonst noch nötig hatte, schon bereit lag.
Gegen die Stiefel erhob Nellie Einsprache. »Sie sind zu unschicklich, zu plump, du machst eine so laute Schritt, daß alles aufwacht.«
Ilse hörte nicht darauf. Sie hatte dieselben bereits angezogen und schlich auf den Zehen zum Fenster hin.
»Gieb mir das Körbchen,« bat sie. Nellie hing ihr ein solches um den Hals, damit sie den Arm frei behalte.
»So, nun bist du reisefertig, mach’ deine Sach’ brav, mein Kind,« sagte sie und küßte Ilse auf die Wange.
Die hörte nichts. Mit leichtem Sprunge schwang sie sich auf das Fensterbrett und von dort stieg sie in den Baum.
Aengstlich blickte ihr Nellie nach. Aber sie hatte nicht Ursache, besorgt zu sein. Ilse kletterte leicht und gewandt wie ein Eichkätzchen trotz ihrer schweren Stiefel.
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