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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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seinen Anzug, fuhr sich mit einem Kamm durchs Haar, ruckte energisch das Kinn gegen die Wartenden: »Das Büro ist geschlossen!«
    Die Leute murrten noch lauter.
    »Provokateure lasse ich wegen Randalierens gegen die Staatsgewalt verhaften! Damit das klar ist! Das Büro ist geschlossen, aus, Feierabend!« Der Mann im Anzug stapfte davon. Die Wartenden standen noch eine Weile ungläubig, zerstreuten sich dann, fluchend und schimpfend. Die Tochter unseres Bezirkssekretärs auf der Ausreisestelle, dachte Richard, noch benommen von der Szene, als die Bürotür sich wieder öffnete und Regine heraustrat, blaß, mit verweintem Gesicht. Neben ihr stand Philipp, eine Packung »Ata«-Scheuermittel in der Hand, aus der das weiße Pulver rieselte. »Das nächste Mal kommen Sie allein, Bürgerin Neubert!« Während eines langen Gesprächs, in dem Regine nahegelegt worden war, sich von ihrem Mann zu trennen, da er ein Staatsverräter sei und man »Beweise« habe, daß er Münchner Bordelle aufsuche, war Philipp zum Waschbecken des schalldichten Gesprächsabteils getappt und hatte mit Putzlappen und Bürste ein »Ata«-Schneefest im ganzen Raum veranstaltet. Die Tür schlug zu, noch im Gehen hörte Richard es drinnen husten.

    Der erste Zensor, dachte Meno, indem er den Knoten seiner Krawatte vor dem Spiegel über einem der in regelmäßigen Abständen angebrachten Flurwaschbecken zurechtrückte. Er befand sich tief im östlichen Flügel der Kohleninsel. Hier oben, unter dem Dach, war es still; in diesen Bezirk gelangte man nur mit einer Sondergenehmigung. Schiffner hatte sie für Meno ausgestellt und unterschrieben.
    »Na, dann kommen Sie mal rein«, rief der Dichter Eschschloraque vom Ende des Flurs und winkte Meno kokett mit dem Zeigefinger. Obwohl die rötlichen Pfettenhölzer der Dachschräge über dem Flur ein mildes, vertrauenerweckendes Licht ausfilterten, fühlte sich Meno an einen Besuch bei Zahnärztin Knabe erinnert; in ihrer Praxis, wenigstens im Vestibül, gab es auch diese nachsichtige, pfirsichzarte und fehlerverzeihende Helligkeit (denn der Fehler war, daß die Zeit verrann, Meno hatte den Eindruck, daß die dienstbaren Geister, die die Vorzimmer der Schmerzzufüger auf Beruhigung tarnten, dies wußten); obwohl aus den Türschlüssellöchern, die er passierte, Kaffee- und Zigarettengeruch schlenderte, stellte sich das Gefühl, durcheinen Tunnel ohne Abzweig zu müssen, genauso prompt ein wie in der Praxis der Zahnärztin Knabe – nur daß Meno mit dem dramaticus (Eschschloraque schrieb hauptsächlich Stücke) nicht gerechnet hatte. Heute sollte er im Auftrag Schiffners alle vier Obergutachter der Außenstelle Dresden der Hauptverwaltung aufsuchen; nur mit zweien, Albert Salomon, wegen seiner gewundenen und taktierenden Urteile »Slalomon« genannt, und mit Karlfriede Sinner-Priest, genannt die »Geheimrätin«, hatte er hier schon einmal verhandelt.
    »Treten Sie ein, Rohde. Mögen Sie Tee? – Erfreulich. Teetrinker sind meist gute Gesprächspartner. Intelligente Mörder sind sie außerdem, und meist haben sie etwas zu sagen. Ich brauche das für eins meiner Stücke, müssen Sie wissen. Ist es nicht viel wirkungsvoller, wenn ein Folterknecht an einer Teetasse nippt, als wenn er bloß ein Bierchen kippt?«
    »Machen Sie es sich nicht zu einfach, wenn Sie besagten Folterknecht Tee trinken lassen? Die Kritik sagt: Oh Gott, der Folterknecht trinkt Bier, natürlich ein proletarischer Anstrich! Wie vermeidet das ein schlauer Autor? Er läßt ihn Tee trinken. Das ist so erwartbar unerwartet, Herr Eschschloraque, und inzwischen auch Klischee.«
    »Sie mögen recht haben, lieber Rohde. Sollte ich also doch zum Bier zurückkehren? Unsere Kritiker erkennen doch nicht, daß dieses Bier durch alle Röhren der inszenatorischen Getränkeabfüllung geflossen ist und sozusagen eine höhere, zweite Naivität erreicht hat. Ich entgehe dem Klischee, indem ich das Klischee erneuere … Hm. Interessante Taktik, aber man müßte den Folterknecht einen Exkurs über das unschuldige Bier machen lassen. Ich habe trotzdem Mut zum Tee. Ich biete Earl Grey.«
    »Ich habe eine Zitrone mitgebracht, Herr Eschschloraque.«
    »Soll es uns sauer werden? Säure ätzt, aber man macht nichts falsch damit. Ich könnte den Folterknecht auch Kakao trinken lassen … Oder eine Limo. Zitronenlimonade. Liebhaber der Zitrone sind mir auch lieber als die der Melone, beispielsweise, eine Melone ist doch im Grunde nichts als Zucker und Wasser, und trotz aller

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