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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Kerne ist sie doch nur das auf den Gartenbau übertragene Prinzip des Blasebalgs. Übrigens brauchen Sie mir nichts zu bieten außer Argumenten, ich nähre bis dato dieIllusion, unbestechlich zu sein. Nehmen Sie Platz, und setzen wir fort.«
    Eschschloraque brühte Tee auf und begann mit der »Schlangenbeschwörung«, wie die Manuskriptvorstellungen und Gutachtenbesprechungen im Verlag genannt wurden. Meno sah sich um, hörte zu und beobachtete Eschschloraque. Der fragte, für welche Manuskripte Meno zu kämpfen gedenke. Meno kannte das Ritual, machte eine Geste, die alles besagen konnte und nichts festlegte: Laß dir nicht in die Karten schauen, Lektor. Nennst du einen Namen, kann der andere ihn hassen und lächelnd erledigen. Nennst du absichtlich einen falschen, um ihn in die Irre zu führen, kann der andere einverstanden sein und ihn lächelnd bestätigen. Decke deine Flanken und schütze deinen König – und sei dir bewußt, daß die Dame nie zu früh aufs Feld gehört. Opfere Bauern, wenn es um Springer oder Läufer geht, opfere die Dame, damit der letzte Bauer matt setzen kann. Und wisse, daß der andere deine Finten studiert hat und deine Schliche kennt.
    »Nun gut, dann werde ich Ihnen zwei Namen sagen, um die ich im Plan kämpfen werde. Machen wir uns nichts vor, Rohde. Sie haben vierzehn Titel, zwölf davon sind …«, Eschschloraque warf einen Blick durchs Fernrohr am Fenster der mit Büchern und Papieren gestopften Stube, »wie sie sind. Zwei werden Anstoß erregen: Altbergs Aufsätze und Eduard Eschschloraques Prosabändchen voll geistreich gelogener Wahrheiten und klassischem Nagergift gegen die romantischen Wühlmäuse im Weinberg der Literatur. Sie wissen genausogut wie ich, daß eines dieser beiden Projekte erbleichen muß.«
    Aber Eschschloraques Lächeln kenterte, als er fortsetzte. Meno ließ den Tee unberührt und die Augen im Zimmer wandern, während der Dramatiker, der Meno wie eine Mischung aus Clown und scharfsinnigem altem Weib vorkam, seine Spottfertigkeit unter die mehr oder minder charakteristischen Eigenheiten der Kollegen schob, deren Manuskripte er in seiner Eigenschaft als Gutachter beurteilt hatte. Goethe als Kupferstich an der Wand, die Sophien-Ausgabe seiner Werke in einem Schrank mit Glastüren, eine Goethe-Büste auf dem Dramatikerschreibtisch zwischen Sowjetfähnchen und Stalin-Porträt mitOriginalautogramm; davor zwei säuberlich ausgerichtete Schreibmaschinen: eine schwarze »Erika«, daneben ein Schild an einem Holzstab ähnlich wie das »Stammtisch« oder »Reserviert« in Wirtshäusern, »sterblich« stand darauf gedruckt; ein zweites Schild, neben der anderen Schreibmaschine, Marke »Rheinmetall«: »unsterblich – wenn ich frisch bin«; Meno war inzwischen seitlich an den Tisch gerückt und brauchte sich nicht weit zurückzubeugen, indessen der Dramatiker auf- und abstapfte. »Grünspanige Wendungen, Rohde! Und immer mit herzlichen (das Ausrufezeichen punktete Eschschloraque in die Luft) Grüßen … weshalb nicht mal hepatische oder pulmonale? Atmen müssen wir schließlich alle, und warum sollte das Gute immer aus dem Herzen kommen? Bei den meisten Menschen pocht eine Uhr, kein Herz. Die Leber: Chemiefabrik des Körpers. Hat viel reichere Tränklein und Säftlein.«
    Die sarkastischen Florette brachen wie an einer Sperre ab, als Eschschloraque auf das Buch des Alten vom Berge zu sprechen kam.
    Meno war erstaunt über den Ernst, die kenntnisreiche, fast feierlich vorgetragene Liebe, die Eschschloraques Bemerkungen über diese Texte wärmte; er hätte es Eschschloraque nicht zugetraut, von ihm nicht erwartet. »Wissen Sie, was ich sehe, lieber Rohde, wenn ich an dies Fernrohr trete? Ich sehe ein klassisches Land, und Altberg ist unter Goethes Kindern. Goethe. Goethe! Ist doch der Vater – und alle Kritik bloß Froschbeinbewegungen.« Er habe noch nie, setzte Eschschloraque fort, solche Aufsätze über Dichter und ihre Dichtung gelesen. Das sei europäisches, ja Weltformat.
    Meno glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Eschschloraque, dieser Kritikus und Spezialschatten, der jede Nachlässigkeit unerbittlich verfolgte, der offen für Stalin und für das stalinistische System eintrat, für den Richard Wagners Musik einem Verbrechen gleichkam, dieser Mann war entwaffnet, hatte allen Spott, alle Sauersucht verloren, stand blaß und todernst an der Tür. »Glotzen Sie nicht so, das ist Ihre verdammte Zitrone! Hm. So wolln wir leben, beten und singen, Märchen uns erzählen

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