Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
Rotundenbrüstung, der gleiche ausgetretene Läufer in verschossenem Rosenrot –, aber die Statuen, obwohl ebenfalls mit Schilden und Schwertern bewehrt, hatten andere Gesichtszüge. Einer der Steinritter hatte humoristischerweise sein Schwert zwischen die Knie geklemmt und schneuzte sich in ein Taschentuch. Die Fältelung war vom Bildhauer, für dessen Namen sich Richard jetztdoch interessierte, mit zarter Akribie und bis zur Dünne einer Oblate bewahrt worden.
    Die Zentrale Anmeldung war eine von Stimmen, Papiergeduld, Transportbandgeräusch summende Schalterhalle. In der Mitte der Halle nadelte ein Tannenbaum, noch geschmückt mit Schnecken, »Narva«-Zitronen, gedrechselten Pferdchen aus Seiffen, kordelgeschützt vor sich hin, was aber keinen der Kittel-Boten, die ihre Wägelchen blicklos durch die Warteschlangen schoben, zu kümmern schien. Regine reihte sich vor den Schalter mit den Buchstaben »L, M, N«, Richard vor »H«, und als er sich umsah, entdeckte er Meno wieder, der wie sie zu voreilig gewesen war und sich am Schalter »R« anmelden mußte, vor dem die zweitlängste Schlange stand, die längste vor »S, Sch, St«.
    Nach einer Stunde war Richard an der Reihe. Er hatte zwei Begehren: Erstens mußte er ein Zweitgutachten über den Fall eines Vulkanisateurs einholen, der, obwohl einziger Vulkanisateur im südlichen Dresden, einen Gestellungsbefehl erhalten hatte (worauf Richard im Auftrag Müllers, dessen Opel Kapitän auf einen guten Vulkanisateur angewiesen war, dem Mann in einem Erstgutachten völlige Militäruntauglichkeit wegen einer Beinverkürzung von links zehn Zentimetern bescheinigte); zweitens ging die Lebenszeit des Gasdurchlauferhitzers in der Karavelle zu Ende, und Richard wollte einen neuen beantragen.
    »Vierter Stock, Flur E, Büro WA – Wohnungsangelegenheiten – Schrägstrich Römisch Zwo«, bestimmte der Mann hinter dem Schalter. Regine hatte ebenfalls zwei Dinge zu erledigen: Erstens mußte sie sich in einem Attest bescheinigen lassen, daß Hansis Geige kein Kulturerbe des Staates sei und ihre Ausfuhr auch sonst keine Staatsinteressen verletze, zweitens hatte sie eine Einladung zu einem »persönlichen Gespräch« mit dem für ihre Angelegenheit zuständigen behördlichen Mitarbeiter erhalten. »Die Schätzstelle liegt auch im vierten Stock, allerdings Flur B, aber wir können zusammen hochfahren«, sagte Regine. Im Büro WA – Wohnungsangelegenheiten – Schrägstrich Römisch Zwo erfuhr Richard, daß der Sachbearbeiter der Zentralen Anmeldung sich geirrt habe und die Stelle zur Beantragung kommunaler Gasdurchlauferhitzer sich im Elften Stock, Flur G, Büro KWV – Kommunale Wohnungsverwaltung – Arabisch Füneff,befinde. Er ging wieder zu Regine. Sie blickte nervös auf die Uhr, sie hatte einen Termin für neun Uhr dreißig, und vor der Schätzstelle warteten ungefähr zwei Dutzend Leute. Ob Richard für sie die Geige einschätzen lassen könne?
    »Das müssen Sie sich aber bescheinigen lassen, meine Gutste«, warnte sie ein Herr, der vor ihr in der Schlange wartete. Er wies zum Schreibtisch am Ende des Flurs. »Erstens müssen die bestätigen, daß Sie es sind, die das Schätzgut abgibt, zweitens, daß es Ihnen gehört, drittens, daß Sie dem Herrn die Vollmacht erteilen. – Ich spreche aus Erfahrung!«
    Über diese Schätzstelle, erinnerte sich Richard, als er sich nach der Bestätigungsprozedur wieder einreihte, waren in jüngster Zeit gewisse Gerüchte aufgekommen. Wernstein hatte ihm einen Fall erzählt, und Wernstein wiederum hatte ihn von der Krankenschwester, die mit einem Assistenzarzt aus der Inneren verlobt war. Dort hatte eine Medizinisch-Technische Assistentin eine Guarneri-Violine geerbt, war sich aber über die Echtheit dieser Erbschaft nicht sicher gewesen und hatte sie hier, in der Schätzstelle, prüfen lassen. Die Violine war tatsächlich eine echte Guarneri, eine Kostbarkeit, auf der die verstorbene Tante der Assistentin still und bescheiden jahrzehntelangen Konzertdienst in den II. Geigen der Dresdner Philharmonie abgestrichen hatte; niemand außer dieser Tante, die alleinstehend gewesen war, hatte um die Besonderheit ihres Instruments gewußt; erst im Testament war der Name des italienischen Geigenbauers gefallen. In der Schätzstelle nun hatte neben dem Sachprüfer ein Herr im grauen Anzug gestanden, der, nachdem der Prüfer einige Kataloge gewälzt, immer wieder mittels eines Zahnarztspiegelchens ins Innere der Geige geblickt und zur Sicherheit noch

Weitere Kostenlose Bücher