Der Turm
einen Kollegen konsultiert hatte, zum Telefonhörer griff und ein längeres Gespräch führte. Die Assistentin, die dachte, nun ausgesorgt zu haben, bekam nach einigen Tagen ein Schriftstück ins Haus, ausgestellt von der Finanzabteilung der Kohleninsel. Die Summe, die darin als Steuerschuld gefordert wurde, konnte die Assistentin nicht aufbringen, und so wurde ihr die Violine weggenommen. So hatte es Wernstein kolportiert; aber auch Niklas Tietze, den Richard auf den Fall ansprach, hatte davon gehört; ebenso Barbara, die es bei Friseur Wiener aufgeschnappt hatte.
Der Sachprüfer warf einen Blick auf Regines Vollmacht, schlurfte an seinen mit grünem Billardsamt bezogenen Tisch zurück und begann die Geige zu studieren.
Zuerst wendete er sie hin und her, mit spielerischen, eleganten Gesten, die Geige wirbelte, stoppte – ein Brennglasblick; weiter, ein paar Notizen mit Bleistift; weiter. Er blickte nicht ins Innere und schlug keinen Katalog auf. Schnecke, Wirbelkasten, Mensurbrett, Schnitt der f-Löcher; dann legte er die Geige unters Kinn, griff den Bogen aus dem Geigenkasten und begann die Bachsche Chaconne zu spielen. Er zelebrierte sie sauber und kräftig gut eine Minute, so daß die anderen Beamten der Schätzstelle ihre Arbeit unterbrachen und ihm zuhörten. Das Gemurmel in der Warteschlange verstummte, das Butterbrotpapier-Geknister, Rascheln und Füßescharren. Aber niemand klatschte, als der Prüfer die Geige absetzte. Richard beobachtete die knappen, genauen Hantierungen; es gab keine überflüssige oder auch nur fahrige Geste; er sah seinen Vater vor sich, wie er an der Werkbank in Glashütte eine Uhr reparierte, Malthakus, wie er Briefmarken sortierte, die gleichen genauen, feinabgestimmten Bewegungen, und das gab ihm zu denken.
Der Prüfer spannte einen Vordruck in eine Schreibmaschine und tippte ein paar Zeilen. Dann legte er das Instrument zurück und klappte den Koffer zu. Auch, wenn es der Geigenbauer – der Prüfer sprach den Namen mit spöttischer Verächtlichkeit – noch so sehr darauf anlege und, was die Geheimnisse des Zargen-, des Flödelbaus betreffe, immerhin beginne, über den Status des Hobbyschnitzers hinauszuwachsen, würden seine Geigen doch nie zum Kulturgut der Deutschen Demokratischen Republik zählen. Dies schriftlich, bitte sehr. Der Prüfer klebte eine Gebührenmarke auf das Zertifikat und schob es auf die Trennplanke in der Tür. Richard zahlte, wollte gehen.
Moment noch.
»Ja?«
Der Sachprüfer nahm die Brille ab und putzte sie umständlich. »Zur Geige gehört noch der Geigenbogen, wie Sie wissen. Ich habe Ihnen nur bestätigt, daß die Geige nicht zum Kulturgut unseres Landes gehört. Für den Bogen müssen Sie sich das ebenfalls bestätigen lassen.«
»Na, bitte schön«, Richard nestelte an dem Kasten, wollte den Bogen gleich herausholen.
»Werter Herr«, korrigierte der Sachprüfer, »ich bin zwar staatlich anerkannter Streichinstrumenten- und Bogensachverständiger, laut Vorschrift aber sind Streichinstrumente und deren Bögen getrennt zur Beurteilung einzureichen.«
»Aber ich stehe doch hier, und da könnten Sie, ich meine, das spart doch Zeit, und hinter mir warten noch andere –«
»Laut Vorschrift sind Streichinstrumente und Bögen getrennt zur Beurteilung einzureichen.«
»Also, hören Sie … so ein Unsinn!« brauste Richard auf. »Sie haben doch eben selber auf der Geige gespielt! Dazu haben Sie den Bogen verwendet, sonst hätten Sie ja gar nicht spielen können! Bitte, untersuchen Sie ihn und machen Sie Ihren Stempel auf den Wisch –«
»Wollen Sie meinem Kollegen drohen?« fragte ein zweiter Prüfbeamter und musterte Richard abschätzig von oben bis unten. »In unserem Staat herrscht die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz! Wollen Sie eine Sonderbehandlung? Was glauben Sie, wer Sie sind?«
»Aber so prüfen Sie ihm doch den Bogen, das ist doch albern«, murrte ein Mann hinter Richard. »Nichts gegen die Gleichheit der Bürger undsoweiter, aber ich habe auch eine Geige und einen Bogen zu prüfen, da muß ich ja auch noch mal nach hinten wandern, und wer weiß, wie viele das heute noch betrifft, so ein Unsinn!«
»Ja, Unsinn!« bekräftigte Richard. »Ich werde mich beschweren!«
»Frechheit, gar nichts werden Sie; ich werde gleich den roten Knopf drücken!« schrie der zweite Prüfbeamte. Dann würde in Sekundenschnelle ein Uniformierter auftauchen und eine zermürbende Sachlagenklärung vornehmen, mit Protokollen, umständlich auf einer
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