Der Turm
war es einem Lektor im Hermes-Verlag gelungen, ein Buch, das sie am »Eintritt in die Literatur« hindern wollte, durchzubekommen. Sie war hager und sah aus wie aus Holz gedrechselt, eine niemals lachende Puppe, die je nach Laune glasscherbenscharf, mit einem einzigen Satz, schlachtete oder sprühende, begeistert sich verkletternde, auch selbstironische Kabinettstücke verfaßte. Ihr Gewährsmann war Lenin, ihr Interesse vorurteilsfrei. Bleistifte trug sie wie japanische Haarnadeln in ihrer schlechtsitzenden Perücke, die ihr Gesicht unnatürlich längte, was ihr etwas Ausgestorbenes gab; Meno stellte sie sich manchmal auf einem Schloßball vor, zeremoniös zu Spinettklängen tanzend. Sie hatte ein Förderstipendium der SS bekommen. Sie hatte Buchenwald überlebt.
Richard war erstaunt, Albert Salomon vor dem Büro der Kommunalen Wohnungsverwaltung zu sehen. Er wartete im sechsten Stock, Flur C, Büro H/2, denn das Büro KWV/5 im Flur G des elften Stocks war nur für Heizungsprobleme, Isoliermaterial, Pumpen und Gaszählerwartung zuständig, nicht aber für Gasdurchlauferhitzer, die ein Sanitärproblem darstellten, wie Richard zur Kenntnis nehmen mußte. Albert Salomon blickte immer wieder auf die Uhr über dem Bürofenster und schien zusehends nervös zu werden. Richard kannte ihn, es war einer seiner Patienten. Albert Salomon hatte vor 1933 als Modelleur und Mustermaler in der Meißener Porzellanmanufaktur gearbeitet, war nach einer Denunziation zuerst in ein Gestapo-Gefängnis und dann ins KZ Sachsenhausen gekommen, wo man ihm unter der Folter beide Arme zerquetschte. Der rechte, mit dem er gemalt und geschrieben hatte, mußte im KZ amputiert werden. Nur ein einziges Mal, soweit sich Richard erinnern konnte, hatte Salomon über das KZ gesprochen: anläßlich einer Stelle in einem sowjetischen Roman, in der er ein Detail aus Sachsenhausen falsch wiedergegeben fand: die Schuhprüfstrecke mit verschiedenen Bodenbelägen, über die Häftlinge tagelang im Eilschritt marschieren mußten, um Sohlenbeläge für Wehrmachtsstiefel zu testen; jeder Bodenbelag »eine Stadt, an die ich dachte«.
Eine Klingel schrillte. »Feierabend, geschlossen!« Das Bürofenster rauschte herunter.
19.
Urania
Die Zehnminutenuhr schlug zwanzig vor fünf; Meno sah noch einmal nach Manuskript, Schlüssel, dem von Arbogasts Sekretärin geschriebenen Einladungsbrief, nahm die Rose für Arbogasts Frau aus dem Wasser, schlug sie in Papier und verließ das Haus. Er ging die Wolfsleite vor, grüßte Herrn Krausewitz, der sich, einen seiner »Mundlos«-Stumpen paffend, im Garten von Haus Wolfsstein zu schaffen machte: »Oh, guten Abend, Herr Krausewitz, ist es nicht noch ein bißchen zu früh für Blumen?« und wies auf die Schubkarre mit Gartenutensilien, die Krausewitz aufgefahren hatte.
»Für Blumen schon, Herr Rohde, jetzt ist das Kernobst dran, außerdem sind die Kronen der alten Apfelbäume da zu dicht, ich muß sie auslichten, sonst haben wir nur kleine Früchte im Herbst.« – »Ziemlich kalt noch, nicht wahr?« – »Ach«, winkte Krausewitz ab, »fürchte nicht den Schnee im März, drunter schlägt ein warmes Herz, wie die Bauern sagen. Es sind auch die Raupen, wissen Sie. Hier«, er wies auf einige Äste, »habe ich Leimringe angebracht. Unter den Klebstreifen haben sie inzwischen ihre Eier abgelegt, diese Biester. Der Frostspanner besonders, eine wahre Plage letztes Jahr. Die Ringe kleben nicht mehr, ich muß sie erneuern. Sonst kriechen die Raupen in die Krone, und das war’s dann mit Obst und seinen Folgen.«
»In unserem Garten haben die Bäume viele Risse in der Rinde.« »Dürfen Sie nicht offenlassen, Herr Rohde. Kein Wunder bei der Kälte, die wir hatten. Die Rinde platzt wie trockene Haut. Ich empfehle, die Wundränder glatt auszuschneiden und dann mit einem Wundverschlußmittel zu versiegeln. Frau Lange dürfte noch welches haben, im Oktober habe ich sie in der Drogerie reichlich einvorraten gesehen. Sonst kommen Sie einfach noch mal vorbei.« – »Also glatt ausschneiden.« – »Wie die Chirurgen, jaja. Sind auch Lebewesen, diese Bäume. Und Charakter haben sie auch. Aber, wie gesagt, den Wundverschluß nicht vergessen.« Wie es auf dem Flughafen gehe, wollte Meno wissen; Krausewitz arbeitete dort als Dispatcher. Wie immer, Routine halt, man habe ihn aus dem Tower zum Bodendienst versetzen wollen, ersei doch mittlerweile achtundfünfzig, nicht wahr. Aber bei den Tests habe er zwei der jüngeren Kollegen hinter sich
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