Der Turm
einen ernstzunehmenden Gegner … Ich lese diese Papiere an den Wochenenden im Familienkreis vor, alle nicken, aber ich habe das Gefühl, daß diese Zustimmung entweder aus Ahnungslosigkeit geschieht oder aus falsch verstandener Liebe, vielleicht will man mich auch schonen … Womöglich hat Trude in dieser Hinsicht gewisse Defizite … Kurz: Ich brauche einen Partner. Ich habe mich über Sie erkundigt, wie gesagt, Sie genießen einen ausgezeichneten Ruf –«
Es klopfte.
»Unterhalten wir uns ein andermal darüber. Überlegen Sie es sich gut. Sollten Sie nein sagen, entgeht Ihnen ein Honorar, das ich, nun, angemessen gestalten würde. Sagen Sie ja, erwartet Sie viel Arbeit, und das zu hin und wieder ungewöhnlicher Stunde. Ich werde Sie morgen abend anrufen, zwanzig Uhr sechzehn. Herein!«
»Die Gäste kommen, Herr Baron.«
»Danke, Frau Alke.« Arbogast nahm den Greifenstock und ließ Meno den Vortritt. Sie gingen in die Halle hinunter. Mehrere Personen warteten. Meno erkannte Vogelstrom, der sich mit dem Bildhauer Dietzsch, Nachbar der Hoffmanns im Haus Wolfsstein, unterhielt, den Musikkritiker des »Sächsischen Tageblatts«, Lothar Däne, den Schwachstromphysiker Teerwagen im Gespräch mit Dr. Kühnast vom VEB Arzneimittelwerk, Zahnärztin Knabe, die im Wolfsstein über den Krausewitz’ wohnte. Ihr Mann, Mitarbeiter im Mathematisch-Physikalischen Salon des Zwingers, stand mit dem Briefmarkenhändler Malthakus und einer Frau zusammen: Judith Schevola. Meno hatte Gerüchte über sie gehört, wie sie in der Literaturszene kursierten, und in »Sinn und Form« einige bemerkenswerte Erzählungen von ihr gelesen … Eine der begabtesten jungen Autorinnen, sie schrieb mit einer in der deutschen Literatur seltenen Leidenschaft. Er hatte sie einigemale auf den Sitzungen des Verbands der Geistestätigen gesehen, auch auf der Leipziger Messe, aber nicht mit ihr gesprochen. Sie hatte graues, kurzgeschnittenes Haar, schienaber höchstens Anfang, Mitte Dreißig zu sein. Alles in ihrem Gesicht wirkte verschoben und verzerrt, als wäre das Gesicht aus vielen anderen zusammengesetzt worden. Nur die Augen schienen ihr zu gehören. Sie musterte Arbogast, dann Meno, an einem Glas mit Granatapfelsaft nippend. Die Männer standen ihr zugewandt, auch auf der anderen Seite der Halle. Alke öffnete die Tür, ließ Rechtsanwalt Sperber, Verleger Schiffner und einen leicht gebeugt gehenden Herrn mit dickfleischiger hängender Unterlippe ein, den Meno nur allzugut kannte; er zuckte zurück und griff ans Geländer, was die grauhaarige Frau mit neugieriger Feindseligkeit zu registrieren schien, denn sie hob den Kopf und folgte Menos Reaktionen, er dachte: Wie eine Insektenforscherin, die einer Fliege ein Bein ausreißt, um zu sehen, wie sie mit dieser neuen Situation fertigwird. Der Mann – der ihn bemerkt hatte und verstohlen den Arm hob – war Jochen Londoner, sein Ex-Schwiegervater.
»Bitte, in unseren Fernseh-Saal!«
»Augenblick, Ludwig.« Frau von Arbogast lächelte ihrem Mann liebenswürdig zu, machte Meno und die Anwesenden miteinander bekannt. Judith Schevola begrüßte Meno knapp: »Wir kennen uns. Beim letzten Verbandskongreß sind Sie sehr gekonnt eingeschlafen.« Arbogast führte die Versammelten zu jener Tür, aus der Ritschel gekommen war. Judith Schevola, der Briefmarkenhändler Malthakus und Zahnärztin Knabe blieben vor dem Gemälde am Drachentisch stehen und kamen erst, als Arbogast ein Glöckchen läutete.
Nach dem Vortrag und der anschließenden Diskussion ging Meno vor den anderen nach oben, man hatte im Konferenzsaal ein Büfett aufgebaut. Alke und Ritschel machten sich am weißgedeckten Tisch zu schaffen. Ein jüngerer Physiker, der beim Vortrag hinter Arbogast gesessen hatte, nickte Meno freundlich zu. »Wenn Sie noch etwas für sich sein möchten …« Er schloß ein Türchen auf, das zu einem breit umlaufenden Altan führte. »Danke, Herr …«
»Kittwitz. Ich arbeite am Institut für Strömungsforschung. Keine Ursache übrigens. Man wird Sie noch früh genug finden, Herr Rohde. Ihr Vortrag hat mir gefallen. Wie die Kreuzspinne einNetz baut – erstaunlich, die Parallelen zum Büfett-Einkreisungsverhalten auf Physikerkongressen … Aber ich lasse Sie jetzt in Ruhe.«
Meno ging an den Rand des Altans. Die kühle Luft tat ihm gut, sein Gesicht brannte, und er war froh, daß er durch Kittwitz’ Freundlichkeit für ein paar Augenblicke allein sein konnte. Hitze- und Kälteschauer wechselten, die Aufregung
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