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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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allgemeiner Beziehung. Ich führesie seit meiner Jugend, genauer: seit der Inflationszeit. Links stehen die Menschentypen, die ich kennengelernt habe. Rechts die Höhe der Geldsumme, die den jeweiligen Typus korrumpiert.« Der Baron lächelte. »Wissen Sie, ich war immer teuer. Sehr teuer. Sich das zu leisten gehört zu einem heutzutage leider verkannten Begriff von Freiheit. Wohin Sie gehören, sollten Sie mir bei Gelegenheit verraten.« Es klopfte. Herr Ritschel trat ein. Er schob einen gummibereiften Wagen über das Parkett. Arbogast machte eine bedauernde Geste und stand auf, Meno ebenfalls, als Ritschel den Kopf langsam in seine Richtung drehte. Seine Augenhöhlen lagen ungewöhnlich tief und verschattet, hatte er überhaupt Augen …
    »Die Modellreihe E«, murmelte Herr Ritschel, jede Silbe gleichmäßig betonend. Auf dem Wagen lagen mehrere DIN-A4-große Blöcke aus durchsichtigem Kunststoff, alle von farbigen Linien durchädert.
    »Sie sind doch Zoologe, Herr Rohde«, Arbogast winkte ihm näherzutreten, »das wird Sie interessieren.« Es waren Augen mit Nervenfasern und Sehbahnen, die zu einem Stück jeweils hellblau gefärbter Hirnrinde führten, dem Seh-Cortex, wo das Gehirn aus den anströmenden optischen Eindrücken ein Bild von der Welt erzeugt.
    »Eichelhäher, Elch, Elritze, Emu, Ente, Esel, Eule«, sagte Herr Ritschel mit seiner seltsam gleichbetonenden Stimme. »Die Augen des Esels ähneln auffallend denen des Ministers für Wissenschaft und Technik«, Arbogast hob einen der Blöcke an und drehte ihn prüfend hin und her, »Ich kann mir nicht helfen, lieber Ritschel, aber diese Augen haben mich schon öfter angeblickt. Sie haben tatsächlich nach der Natur …?«
    »Selbstverständlich, Herr Professor. Es handelte sich um Bileam, unseren hiesigen, letzten Sommer leider verwichenen Zoo-Esel. Ich erbat mir seine Augen zum Modell.«
    »Er ist mein bester Kunststoff-Arbeiter, Herr Rohde, mit Geld nicht zu bezahlen.«
    Ritschel verbeugte sich leicht.
    So etwas wie diese Augen in den durchsichtigen Kunststoff-Blöcken hatte Meno noch nie gesehen, selbst an den Zoologischen Instituten von Leipzig und Jena nicht, für die hervorragendeSpezialisten arbeiteten. Die Präparate waren mit höchster Präzision in die Kunststoffmasse gegossen, allerdings nicht maßstabsgerecht, denn alle hatten die gleiche Größe; die Augäpfel wirkten wie farbig glasierte Tischtennisbälle. Neben der Sehbahn war jeweils ein einzelnes Auge eingelassen, Sektorenschnitte zeigten die Verhältnisse im Innern: Irisring, Stellmuskel für die Regenbogenhaut, Glaskörper, Ader- und Netzhaut, und daraus wiederum ein Schnitt mit Stäbchen und Zapfen.
    »Eines meiner Steckenpferde.« Arbogast hatte sich wieder gesetzt und betrachtete den Stock mit der Greifenkrücke, nickte Ritschel zu, der die Blöcke auf dem Wagen verstaute und hinausrollte. »Ein anderes ist, wie Sie bemerkt haben, die Alarmanlagen-Physik. Wissen Sie, auch ich habe zu spüren bekommen, was es heißt, sein täglich Brot sich verdienen zu müssen – auch wenn es nicht den Anschein haben mag. Ich bin in der Inflationszeit großgeworden. Mit selbstgebastelten Alarmanlagen und Fotoapparaten habe ich mir den Erwerb der Kenntnisse verdient, die ich zum Aufbau meines physikalischen Laboratoriums brauchte. Ich habe in einer Rumpelkammer angefangen, damals, in der schlimmen Zeit um dreiundzwanzig in Berlin. Da war ich knapp sechzehn, Herr Rohde, und freier Unternehmer. Wenn Sie wollen, zeige ich sie Ihnen nachher, wir können einen kleinen Rundgang machen. Aber, lieber Rohde,« Arbogast breitete die Arme und lud Meno ein, sich ebenfalls wieder zu setzen, »reden wir doch lieber über Sie. Wenn ich schon Gäste habe, möchte ich sie gern näher kennenlernen. Man ist doch sehr eingespannt in die Alltagsarbeit, und solche Abende wie den heutigen genieße ich, freue mich schon Wochen im voraus darauf. – Was sagen Sie übrigens zu Ritschels Künsten?«
    »Erstaunlich, Herr Arbogast.«
    »Nun, von Arbogast. Jaja, Sie haben recht, das ist wirklich erstaunlich. Ritschel ist ein Meister seines Fachs … Sie wissen ja als ehemaliger Zoologe, wie sehr man als Wissenschaftler von den Handwerkern abhängig ist. Sie sind es, die unsere Apparaturen bauen, und was wäre selbst ein Röntgen ohne seinen Labormechanikus gewesen … Diese Augen: Sie betrachten uns, lieber Rohde. Die Augen sind es, die sehen und gesehen werden … Das Entscheidende passiert in den Blicken, sagte die

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