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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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weltbewegendes Ereignis gewesen war, nur ein Fußballspiel, damals, als die Italiener nicht nur mauerten; Uwe Seeler blickte leer, nicht volksheldenhaft, WM 74: Die Frisur von Paul Breitner glich einem elektrisierten Staubwedel.
    Christian stand auf, zog sich den Bademantel über, tappte in die Küche, um etwas Tee zu trinken, den Anne ihm in zwei Thermoskannen hingestellt hatte. In der Speisekammer fand er eine angerissene Packung Hansa-Keks, er kostete, die Kekse hatten Feuchtigkeit aufgenommen und schmeckten wie durchweichte Pappe. In Waldbrunn gab es jetzt Physik bei Herrn Stabenow. Er wirkte kaum älter als die Schüler mit seinem jungenhaften Gesicht und der Nickelbrille, die ihm ständig die Nase hinabrutschte; er schob sie mit dem Mittelfinger der Rechten wieder hinauf, eine Geste, auf die die Klasse trotz der deutlichen Analogie zum Vogelzeigen weniger achtete als auf dieVersuchsanordnungen: zwei verchromte Kugeln auf schräggestellten Stäben, Gummiband und Kurbel, und wenn Stabenow drehte, raspelten Funken zwischen den beiden Kugeln – Mittelfinger, Nickelbrille –; Magneten, groß wie Eishockeypucks, Stabenow streute Eisenpulver dazwischen, das sich zu Feldmeridianen ordnete und oben an den Polen glitzernde Büschel bildete – Mittelfinger, Nickelbrille –; aber irgendwann vergaßen sie die Geste, vergaßen das Feixen und folgten gebannt dem Hantieren Stabenows, das niemals unsicher wirkte; seine Experimente, die er akribisch nach dem Unterricht im kleinen Vorbereitungskabinett neben dem Physikzimmer aufstellte und durchprobte, funktionierten immer, auch das imponierte ihnen natürlich, denn sie konnten sich in Stabenow versetzen und ahnten ihre eigene scharfsichtige Grausamkeit, der keine Eigenheit eines Lehrers entging, sie wußten, daß er es sich schon denken konnte, daß sie insgeheim auf einen Fehler von ihm warteten. Christian trank Annes starken Fencheltee und ärgerte sich, daß er hier krank lag, während die anderen experimentieren konnten. In der Polytechnischen Oberschule hatte er Physik nicht gemocht, es gab für seinen Geschmack in diesem Fach zuviel Mathematik; erst die Kernphysik hatte ihn aufhorchen lassen, aber auch nur, solange nicht gerechnet wurde – und wenn Arbogast gekommen war, der Pate der Louis-Fürnberg-Schule, und aus seinem Leben und von Forscherpersönlichkeiten erzählt hatte, die er kannte. Bei Stabenow war es anders. Er brannte für sein Fach, die Schüler spürten das. Sein ganzer Körper krümmte sich, wenn er vom prinzipiellen Aufbau eines Radios erzählte und abgerissen begeistert den verschlungenen Wegen der menschlichen Stimme durch all die Röhren, Transistoren, Spulen und Widerstände nachging. Am Ende des Unterrichts war die Krawatte verrutscht – eine von den »Maurerkellen«, die es in Waldbrunn zu kaufen gab und die ihm, hieß es, die Vermieterin ebenso aussuchte wie die Socken: Herr Stabenow wohnte in einer der Gassen, die vom Markt gingen, zur Untermiete. Die Tafel war über und über mit Formeln und Skizzen in Stabenows genialischer Schmierschrift bedeckt, die Trümmer mehrerer weißer und roter Kreidestücke lagen enthusiastisch weit in der Klasse verstreut. Unter den Jungen hatte er ein wahres Physikfieber entzündet, alle wollten sie plötzlichUranspaltung betreiben, Großtaten auf dem Gebiet der Mikroelektronik vollbringen, Taschenrechner mit hundert Funktionen erfinden … zunächst aber Pfeife rauchen lernen, denn alle genialen Physiker, das sahen sie auf den Fotos, die Stabenow mitbrachte, rauchten Pfeife: Einstein, Niels Bohr, Kapitza … Max Planck, hatte der Pfeife geraucht … oder Heisenberg? Mit einunddreißig Jahren den Nobelpreis … da blieben ihnen noch vierzehn, das war eine Unmenge Zeit, sie würden es bestimmt auch schaffen. Sie mußten nur ordentlich Pfeife rauchen und lernen, so bedeutend zerstreut zu sein wie jener Physiker, der sich eines Morgens auf sein Fahrrad schwang und starren Blicks, die Pfeife im Mund, zu treten begann, bis jemand fragte: Wo wollen Sie denn hin? – Ich fahre zum Institut! – Ohne Kette?
    Der Fencheltee schmeckte ekelhaft, Christian schüttete ihn in den Ausguß. Er sah nach draußen, auf Griesels Garten, der noch winterlich kahl lag; Marcel, Familie Griesels schwarzer Pudel, sprang in seinem Zwinger hin und her und bellte, weil der dicke, gescheckte Nachbarskater Horaz, begleitet von der Katzendame Mimi, weiß mit schwarzen Pfötchen, eben ungerührt an den Tomatenhölzern auf dem Beet vor der

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