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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Treppenmitte stehengeblieben war, klang die helle, etwas brüchige Stimme Libussas im Ohr, das gerollte »R« beim Nachnamen seines Onkels, die leicht gaumigen »O«s, die bei den meisten Besuchern, die Libussa nicht kannten, zu Fragen nach ihrer Herkunft führten. Soweit er wußte, hatte sie als Sekretärin beim VEB Deutfracht/Seereederei gearbeitet und war vor vielen Jahren mit ihrem Mann nach Dresden gezogen. Auf einigen Fotografien an den Wänden der Treppenstiege sah man die beiden gemeinsam: eine hochgewachsene, knochig gebaute Frau mit halblangem Haar und dunklen, zerbrechlich wirkenden Augen, die zu groß geraten zu sein schienen für Libussas schmal-herzförmiges Gesicht und den Betrachter mit einem Ausdruck zwischen Irritation und Müdigkeit ansahen; der hagere, prüfend blickende Mann in weißer Uniform, lässig die Händein die Taschen gesteckt und etwas abgewandt, so daß das scharfe Licht eines Sommertages im Rostocker Hafen, irgendwann in den Fünfzigern oder Sechzigern, einen überhellen Fleck auf der Schulter des Schiffsarztes hinterließ und sie mit dem Hintergrund verschmolz. Auf diesem Bild wirkten sie, fand Christian, wie ein ertapptes Liebespaar, vielleicht aber standen die beiden nur deshalb so stocksteif, weil sie sich bemühten, den Vorstellungen des Fotografen, wie ein Schnappschuß für das Brigadetagebuch oder den Lokalteil der »Ostsee-Zeitung« auszusehen habe, zu entsprechen. Auf dem Bild daneben lachten sie, beide hatten Rucksäcke überquer und schon graues Haar, Libussa wies mit einem Wanderstock in unbestimmte Ferne: Nach Spindelmühle stand in dünner Schrift auf dem Passepartout der Fotografie; Christian hatte sich etwas vorgebeugt, um es entziffern zu können. Fotos, alle mit Briefmarkenrand und von jener sacht staubigen, nicht sehr satten Belichtung, die ein »Orwo«-Schwarzweißfilm zuließ.
    Ganz anders dagegen die Fotografien gegenüber, die schon immer Christians und auch, wenn sie hiergewesen waren, Ezzos und Roberts Bewunderung erregt hatten: Diese sepiabraune Tönung kannten sie von den UFA-Filmprogrammen, die in einem Koffer auf dem Dachboden der Karavelle versteckt lagen – dort sah man akkurat gescheitelte, von milder Gloriole umschwebte Schauspielstars gläubig an wilden Bergflanken emporblicken; hier dagegen keinen Piz Palü oder schmissigen Johannes Heesters, sondern den Golf von Salerno; Neapels Küstenstraße, den Posilipp; den Hafen von Genua mit dem hohen, kastellhaft wuchtigen Leuchtturm darüber. Früher hatte die zweite Blumenlampe, unten, am Aufgang, noch funktioniert, so daß man die Bilder bei gutem Licht hatte betrachten können; es mußte ein Schaden am Lampenkabel irgendwo unter dem Verputz vorliegen, denn auch mit neuen Glühbirnen war es dunkel geblieben. Oft, wenn Christian hier übernachtet hatte, war er nachts aus der Kajüte heruntergeschlichen und hatte sich beim Schein einer Taschenlampe, manchmal auch mit Hilfe einer der Grubenlampen, die im Schuppen schlummerten, die Fotografien angesehen, und besonders die drei italienischen Bilder hatte er geliebt und staunend wieder und wieder betrachtet; hattedavorgestanden wie jetzt und seine Blicke über Lichtflecken, Häuser und die wie meerenttaucht wirkenden Schiffe wandern lassen. Er ging die restlichen Stufen nach oben, jede knarrte in einem anderen, vertrauten Ton. Auch an der flachen Spinne des oberen Flurs war eine Glühbirne defekt, die anderen flackerten, als er kurz anschaltete, um über die Kohlenschütten nicht zu stolpern, die neben Langes Küche und der Kajüte standen. Unter der Tür von Langes Stube war ein Lichtstreifen zu sehen; Professor Dathe war verstummt, dafür sprach nun eine gesetzte Männerstimme, vielleicht ein Programmansager.
    In der Kajüte war es kalt, der Kanonenofen neben der Tür lauwarm, so daß Christian von draußen einige Briketts holte und nachlegte. Sie fielen polternd in den gußeisernen Schacht, Glut stob auf. Im Bad nebenan, das die Langes, die Stahls und Meno gemeinschaftlich nutzten – nur die Wohnung unter dem Dach besaß ein eigenes kleines Bad –, wusch er sich die Hände und rasierte sich mit dem klobigen »Bebo Sher«-Apparat, den er von seinem Vater bekommen hatte. Dann zog er sich um, die Reisetasche ließ er unausgepackt auf dem Sofa stehen, auf das Anne Bettwäsche und Nachtzeug gelegt hatte, ließ noch einmal seinen Blick durch das Zimmer schweifen und zog die Gardine vor das Bullaugen-Fenster, bevor er nach unten ging.
    Er holte den Beutel, in

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