Der Turm
West-Zigaretten und noch mehr Bücher aufzubewahren gedenkt, eingeklinkt – man hat die Hände frei, und die Beutel können nicht von Zeit- und Leidgenossen an sich gebracht werden. Der Anflug der Bücherheuschrecke vollzieht sich in Fahrgemeinschaften: Anne und Robert in Rohdes Moskwitsch, Malthakus und Dietzsch in Kühnasts Škoda, Prof. Teerwagen und Frau mit Knabes, deren Wartburg in der Reparatur ist; Schallplattenhändler Trüpel mit Tietzes. Gespräche: Ach, das herrliche Opernbuch, ach, und das herrliche Picasso-Buch (Musikkritiker Däne zu Adeling, die – per Zug anreisen); Strategie zur Täuschung der Ein- und Auslaßdienste (System »Bauernopfer«: einer brüllt, die entstehende Verwirrung wird benutzt, um die Beute in Sicherheit zu bringen). Ich habe die Kollegen vorbereitet, habe zwei (!) Schließfächer im Leipziger Hauptbahnhof mieten können. – »Nur zwei?!« Musikkritiker Dänes Verzweiflung ist eine ahnungslose, immer noch, nach so vielen Messejahren. Wenn der wüßte, daß Schließfächer in Leipzig vererbt werden.
Der Angriff der Bücherheuschrecke vollzieht sich in Wellen, seinunmittelbar bevorstehender Beginn wird dem scharfen Beobachter dadurch kenntlich, daß sich die ohnehin immer gierig blickenden Augen zu Hungerschlitzen verengen. Der Hunger gilt vorrangig den Farben. Hauptsache: bunt. Je bunter die Beute, desto besser. Und je mehr davon, auch: desto besser. Am versessensten ist die Bücherheuschrecke auf rote Umschläge. Der Verdacht besagt: Das hat etwas mit uns zu tun. Hat der Hungerschlitz einen Dissidenten-Namen registriert, muß sofort gehandelt werden. Der wachhabende Lektor ist von Buchheuschrecke B in ein strategisches Gespräch zu verwickeln, während Buchheuschrecke A mit trommelndem Herzen, in Schweißausbrüchen und erblindet vor Courage blitzschnell ans Regal tappt (der Griff muß weich abfedernd über dem Umschlag der Beute zum Stillstand kommen, das ist die alles entscheidende Pause, die Sekunde glücklicher Furcht: ICH HAB’S! Zwischen meinen Fingern ist es, der Umschlag ist glatt und aus dem Westen), jetzt:
Knöpfe am Messe-Mantel lösen
elegant nach oben schauen, trockne Lippen mit der Zunge netzen Hustenanfall vortäuschen
bücken
rot werden nicht vergessen
Husten verstärken
Messe-Mantel auf
Augen zu und –
weg
weg
weg
(»He, Sie da, sagen Sie mal, was erlauben Sie sich?« – »Aber, Sie … haben doch sonst immer weggesehen?« Tumult. Sperre bilden. Darauf achten, nicht als Einheit wahrgenommen zu werden, da sonst Messeverbot. Messeverbot = Katastrophe. Katastrophe = Heimfahrt mit: »Du hättst es haben können, wärste nich so blöd gewesen!« Barbara stößt einen Schrei aus, sinkt beiseite. Notfall. »Danke, geht schon wieder.« Malthakus und Teerwagen entweichen. Beute: Isaak Deutscher, Stalin. Alexander Solschenizyn: Der Archipel GULag, 1. Teil. Eine Anthologie Schriftsteller gegen Atomwaffen. Friedrich Nietzsche: Warum ich so klug bin. Draußen: Erste Runde vorbei. Beruhigungstabletten aus UlrichsAutoapotheke. »Ein Komma am Knast vorbei, Herr Professor!« – »Hat sich aber gelohnt!« – »Ham’ Se schon ’ne Liste, wer wann mit Lesen drankommt?« Schluck aus der Teeflasche. Vergleich der Plastbeutel-Inhalte, Kontrolle der Mäntel. Durchatmen. Auf zur zweiten Runde.)
Es war das Jahr der Apokalypse. Fast alle ausgestellten Bücher beschäftigten sich mit Weltuntergängen. Der Wald starb. Raketen wurden stationiert, Pershing und Cruise Missiles, es gab den SALT II-Vertrag und ein Programm zum Krieg der Sterne; aller Sprengstoff der Welt reichte aus, die Erde mehrfach explodieren zu lassen. Die Stimmung auf der Messe war gedrückt, Lektoren, Verleger, Autoren: alle waren finster entschlossen, unterzugehen. Jemand hob sein Glas und wünschte sich den Untergang wenigstens in der Abendröte vor seinem Toskana-Häuschen: Man muß sich dann nicht so fürchten!
Kamen die Lektoren aus den Westverlagen an den Stand des Hermes-Verlags, winkte Schiffner, lächelte unternehmend und tuschelte, die verängstigte Judith Schevola, die er zur Messe beordert hatte, nach vorn schiebend: »Eine unserer größten Begabungen! Von der werden wir noch viel hören!« Aber die Lektoren senkten nur traurig die Köpfe und nippten resigniert am Rotwein. Schiffner klopfte Schevola auf die Schulter und meinte, das habe nichts zu bedeuten. Die Apokalypse aber machte hungrig, die Kneipen und Restaurants waren überfüllt, in »Auerbachs Keller«, »Zills Tunnel«, der
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