Der Turm
ihm für diese Zeitspanne Quartier; sie hielten es auch nach der Trennung von Hanna und Meno so, denn die beiden Männer empfanden Sympathie füreinander, stillen Respekt, »eine Art von schwieriger Freundschaft«, so hatte es Hanna einmal ausgedrückt. Die Krähen waren immer da, schienen sich über die Jahre zu Heerscharen vermehrt zu haben. Schlimmer als ihr Quarren, Ratschen, Klöppeln und Krächzen war für Meno der Augenblick, wenn sich in der Dämmerung die Tore der Baumwollspinnerei öffneten und die Arbeiter nach Hause gingen: dann verstummten die Krähen, man hörte das Schlurfen vieler Schritte, rhythmisch unterbrochen vom Nietgeräusch mehrerer Stechuhren, hin und wieder vom Schleifen einer Straßenbahn, die durch eine Kurve fuhr oder beschleunigte. Die Krähen saßen zur Stunde, wenn der Wind in Leipzig nach Norden drehte und feinen Braunkohlestaub aus den Tagebauen bei Borna und Espenhain mit sich führte, in breiten Fahnen um die Häuser schwenkte und auf den Straßen mannshohe Schattenstrudel, die»Zypressen« erschienen, ohne Laut auf den gegen den helleren Himmel wie Erzadern gezackten schwarzen Bäumen und blickten auf die Arbeiter hinunter, von denen die meisten die Vögel nicht beachteten, sondern gesenkten Kopfes, mit schleppenden Schritten zur Haltestelle oder dem zentralen Fahrradstand vor der Fabrik gingen. Manchmal kam es vor, daß eine Frau die Faust hob und in die Stille keifte, oder ein Mann warf einen Stein nach den Krähen und fluchte, worauf ein rasender, mißtönender Schwarm, ein aus rauschenden Fluchten, Wutgeschrei und Federngeklirr bestehender Vogelriese, in pulsenden Ringen über der Fabrik aufschwoll, die kreischend am Himmel kreisten und langsam, indem sie zu Trichtern niedergesogen zu werden schienen, die sich in einem dünnen Wirbel wie in einer Sturmspindel vereinigten, in die Ulmen zurücksanken; einzelne Tiere lösten sich aus dem zerflatternden Sog, falteten die Flügel zusammen, kamen wieder zur Ruhe. Meno beobachtete es vom Fenster des Stübchens, das Philipp ihm überließ; die Baumwollspinnerei lag gegenüber, morgens, wenn er sich auf den Messetag vorbereitete, konnte er die Arbeiter der Frühschicht an den Maschinen sehen, rasch und abgezirkelt sich bewegende Silhouetten unter Neonstrahlern.
Meno packte den Koffer aus. Im Arbeitszimmer, neben Philipp, saß eine junge Frau.
»Das ist Marisa.« Philipp zündete sich einen seiner Zigarillos an, kubanische Ware; vielleicht war dies das einzige Privileg, das er nutzte. »Hab’ ihr schon gesagt, wer du bist.«
»Du hast dir einen Schnurrbart stehenlassen«, erwiderte Meno. »Sie sagt, das ist jetzt in Chile modern. Auch eine?« Er reichte Meno sein silbernes Etui.
»Hat man nicht jeden Tag. Gern.«
»Wenn dein Spanisch noch besser geworden sein wird«, sagte Marisa und zwinkerte Philipp zu, »werden wir dich als Compa- ñero gelten lassen. Ich werde Tee zubereiten gehen.«
Philipp wehrte ab: »Laß nur, mach’ ich.«
»Nein, du bleibst sitzen und redest mit ihm. Reden ist Sache der Männer. Ich bereite zu den Tee. Das ist Sache der Frauen.«
»Unsinn.«
»Wenn es Zeit geworden sein wird zu kämpfen, werde ichkämpfen. Der Kampf ist auch die Sache der Frauen. Aber jetzt ist Zeit, um Tee zu trinken.« Sie hob stolz den Kopf und ging hinaus.
»Nicht, daß du glaubst, daß ich das unterstütze. Aber viele der chilenischen Genossen sind so. Diese bürgerlichen Verhaltens-Überbleibsel –«
»Das sind keine bürgerlichen … wiesagstdu. Was glaubst du, wie viele Angehörige der Bourgeoisie bei uns haben lange Haare wie du! Wenn ich dir gehe, um zu bringen den Tee, es ist eine Form von emoción! Und la revolución braucht heiße Herzen und nicht das von meiste deutsche Genossen –«
»Corazon del noviembre?« versuchte Philipp.
»November-Herrzen«, versuchte Marisa.
TAGEBUCH:
Vor Abfahrt zur Messe Gespräch zwischen Schiffner, Schevola und mir. Über den Titel »Die Tiefe dieser Jahre« müssen wir uns noch unterhalten. Solche Titel behaupten etwas, dem der Text noch nicht gerecht wird, er möchte die Vorgabe einholen, und manchmal will das nicht gelingen, da das Buch über sich anders dachte als sein Autor. Ich weiß nicht, wer gesagt hat, daß ein Buch nach seinem »Helden« benannt werden sollte, alles andere sei Kolportage – je länger ich in diesem Beruf bin, desto mehr gewinnt mich dieser Satz, freilich hat auch seine Aussage Tücken, denn wer kann mit Bestimmtheit behaupten, daß dieses Verfahren
Weitere Kostenlose Bücher