Der Turm
die Nadel sank, die vielleicht schon stillstand, aber, da die Wände des Trichters sich aufwölbten und der kreiselnde Strom schon das Zimmer jenseits des maurischen Tischchens erreichte, auf dem der Plattenspieler stand, von der sich entgegendrehenden Schallplatte berührt wurde, ein elektrisches Fluid, aus dem vereinzelte Funken stoben; rieselnde Neurotransmitter, als ob zwischen zwei Körpern ein Staudamm stünde, der bei Annäherung unter eine bestimmte Entfernung, unter übermächtigem Druck, Risse bekommt und das, was er hält, auszuschwitzen beginnt; die Spannung von Wasser, das sich dem fremden, immer näher kommenden Körper entgegenbiegt, ein vorweggenommener Kontakt, die Nadel wurde mitgerissen von der zu einer Woge wachsenden Schallplatte, ein Moment, den Niklas mit angehaltenem Atem, die Hand noch beschwörend, zu raschem Eingriff bereit über demAbtastarm in geduckter, sprungbereiter Haltung erwartete, während mein Blick vom steigenden Rauschen ins Zimmer gezogen wird, dies schöngeschnittene Zimmer mit der grünen Tapete, die von der Erbauerin des Hauses, einer Sängerin an der Dresdner Oper, überkommen war; die Tapete mochte so alt wie das Jahrhundert sein, die eingewirkte unterseeische Fauna blinkte kupfrig im Lichtrauch, der vom Plattenspieler tastete, Niklas fragte mich nie nach den Tieren, die aus den »Kunstformen der Natur« Ernst Haeckels stammten und mir vertraut waren, wie oft hatte ich als Student im Zoologischen Institut Jena vor den akademisch exakt ausgeführten Malereien gestanden und mich an den Farben, den Formen all der Staatsquallen, Portugiesischen Galeeren, der Desmonema Annasethe erfreut, die wie ein Belle-Epoque-Kopfputz zwischen den Vitrinen mit gebundenen Fachzeitschriften-Jahrgängen zu schwimmen schien; der Saphir glitt in die Spur, im Funkenspinnen der Platte, der Wanderdünung des Lichts begannen sie sich zu bewegen, die Strahlentiere und Urnensterne an den Wänden, die kristallinen schwebenden Monstranzen und gotisch nadelnden Kapellchen, vertieften sich, wie ich es von Malthaku s’ Postkarten kannte, wenn das Glöckchen über seiner Ladentür lange schon wieder verstummt und Malthakus, den es gerufen hatte, wieder nach hinten gegangen war, um sich über einen Katalog zu beugen und eine Sammlung Briefmarken, Spezial-Lupe, manchmal ein Uhrmacherglas vor dem Auge, auf ihren Wert zu taxieren, Wieder London und Prag, Herr Rohde? erkundigte er sich, wenn er mich begrüßte, oder darf ’s auch mal Rapallo sein? Da hab’ ich was Brauchbares neulich ’reinbekommen, – und ließ mich allein mit einem Halbdutzend sepiabrauner Ansichtskarten, eine Bucht, mittelmeerische Vegetation, an der Seite ein Haus mit einem Altan auf antik anmutenden Säulen, eine Statue im Garten, ich hatte noch Schnee auf Mantel und Hut, die Geräusche der Straße im Ohr, der Schnee taute, und wie er sich verflüssigte, schmolzen auch die Konturen des Hauses, der Statue, die Segel des Schoners in der Bucht begannen zu flattern, die wie gemeißelte Brandung zerbrach und schäumte ans Ufer, – Brandung, die mit dem ersten, von fernher aufklingenden Ton des Orchesters aus den Nachtschatten des Musikzimmers schwillt –
Meno querte die Turmstraße auf Höhe des Lindwurmrings, der zur Bautzner Straße parallel die ihr zugewandte Seite des Viertels umgriff und den Wald auf dem Abhang zur Mordgrundbrücke begrenzte, an der die Straßenbahn Anlauf nahm für die Steigung zum Viertel. Rechts, in einem baufälligen Eckhaus, befand sich die Pension Steiner, wie bei den meisten Häusern war der Putz schrundig und in großen Placken abgebröckelt; das Rot der freiliegenden Ziegel wirkte entzündet, der Mörtel zwischen den Steinen war auf einzelne Kerne reduziert. Unter den Ecken der Ziegel konnte man ihn körnchenweise herauspolken. Die Ziegel selbst schienen wie von Fraßgängen winziger Insekten durchsiebt, porös wie Zwieback, manche trieben Gas aus, das aus den undichten Leitungen abwich, wölbten den Putz, wenn er noch vorhanden war, zu Buckeln und Blasen, und wo sie Feuchtigkeit schwitzten, kroch wie Aussatz der Schwamm. Ein Gerüst stand auf der Turmstraßenseite des Hauses, es stand da schon seit Monaten, Arbeiter hatte man darauf noch nicht gesehen. Solche Gerüste gab es in der Stadt viele, man munkelte, daß dies eine neue Methode sei, ein Haus kostengünstig abzustützen. Sommers standen die Fenster der Pension Steiner offen, man hörte das Klappern der Schreibmaschinen aus dem 1. Stock, wo sich ein
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