Der Turm
Handelskorrespondenzbüro, eine Außenstelle des »Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe«, befand. Im 4. Stock, über den Räumen der Pension, bewohnte Frau Zwirnevaden zwei Stuben, in einer davon betrieb sie ein Scherenschnittatelier, in dem sie Figurinen für das Trickfilmstudio Dresden herstellte. Über die alte Frau liefen im Viertel manche Gerüchte um, die Kinder fürchteten sich vor ihr, auch sah man sie selten. Sie trug schwarze Kleider und pantoffelartige Schuhe, die an den Spitzen aufgebogen waren, ließ ein Buchsbaumstöckchen mit Löwenköpfchen auf die Straße tacken, blieb vor den Schaufenstern der Geschäfte stehen und lockte hin und wieder mit welkem Zeigefinger. Eines der Gerüchte, von den beiden Uhrenhändlern des Viertels in Umlauf gebracht, besagte, daß alle Uhren zu schlagen begannen, wenn Frau Zwirnevaden vorüberging, und es mußte wohl, war sich die Mehrheit der Beobachter einig, etwas daran sein, denn die Uhrmacher Pieper und Simmchen, wegen seiner feinen Konstitution allgemein »Ticketack-Simmchen« genannt,waren spinnefeind und gönnten einander nichts. Aber Simmchen, dessen gleichnamiger Cousin ein Juweliergeschäft am Schillerplatz leitete, hatte flammend die Hände gehoben und zu Barbara gesagt: »Ich schwör’s Ihnen, Frau Rohde! Alle Uhren auf einmal, und es war doch erst fünf vor zwölf!« Barbara hatte beim Weitererzählen in der Pelzschneiderei »Harmonie« zwar darauf hingewiesen, daß Simmchens Nase rot wie eine Feuerbohne gewesen sei, doch habe sich Simmchen während ihrer Unterhaltung mehrfach und ausgiebig schneuzen müssen. Ein anderes Gerücht stammte von Frau Zschunke, Betreiberin des »Obst-/ Gemüse-/Speisekartoffeln«-Geschäfts, des sogenannten »Saftladens«, Ecke Rißleite/Bautzner Straße, eine etwa vierzigjährige, rosig beleibte, alleinstehende und den Außerirdischen-Th eorien Erich von Dänikens restlos ergebene Frau, die alle Augenblicke etwas fallenließ, weil sie unter »Huch!« und »Hach!« fürchterlich über etwas erschrocken war und sich atemringend an den imposanten Busen griff . Frau Zschunkes Schreckhaftigkeit nutzte die Jugend des Viertels unter Zuhilfenahme von Plastspringspinnen, die es in der Spielwarenhandlung König in der Lübecker Straße zum Preis von zehn Pfennig pro Stück zu kaufen gab, weidlich aus; mit Vorliebe dann, wenn Frau Zschunke in den Korb griff, um die Früchte in einen Blechscheffel zu sammeln und gegen Gewichtstücke, die in Reihen in einem Holzkasten aufb ewahrt wurden, abzuwiegen. Eines Tages war Frau Zschunke in die gegenüberliegende Konditorei Binneberg gerannt und hatte der um Törtchen und Mokka anstehenden Kundschaft eine verzweifelte Szene gemacht, »diese Frau«, »diese Zwirnevaden« habe ihr alle Kohlköpfe mit ihren Spinnenfingern »angetatscht« und sich murmelnd über die schlechte Qualität erregt (worauf einige der vor Binnebergs Eierschecke-Assemblée Wartenden kaltherzig nickten), ihr dann zwei der Kohlköpfe, einen weißen und einen roten, gereicht, worauf sie, Frau Zschunke, erst zur Weißkohl-, dann zur Rotkohl-Kasse gegangen sei – plötzlich aber Gesichter in den Kohlköpfen entdeckt habe! Eines davon habe dem Jungen vom Toxikologen Hoff mann aus der Wolfsleite ähnlich gesehen! – Doktor Fernau empfahl, die Diäten nicht nur auf Gelbe Köstliche zu beschränken, da in dieser Apfelsorte nur bestimmte Vitamine enthalten seien.
Winters waren die Rolläden vor den Fenstern der Pension Steiner herabgelassen. Kam man von der Straßenbahnhaltestelle, schimmerten die Lampen wie grüne und gelbe Augen durch die Jalousien, die schiefhingen und im Wind klirrten, dahinter wanderten Schatten auf und ab. In der Pension lebte ein ehemaliger Generalstäbler des Deutschen Afrikakorps’ Tür an Tür mit einem untersetzten Mann mit mächtigem schwarzgefärbtem Schnurrbart und rasiertem Schädel, der sich Hermann Schreiber nannte und von dem die Fama ging, er trage in Wahrheit einen russischen Namen und sei in seiner Jugend Spion im Dienst der zaristischen Geheimpolizei Ochrana und gleichzeitig der noch illegal arbeitenden Roten Truppen gewesen. Rumänen, Polen und Russen stiegen auf dem Weg zur Leipziger Messe gern in der Pension ab und feierten mit den Fremdsprachenkorrespondentinnen des Handelsbüros, die Russen manchmal auch mit Offizieren aus dem Lazarett der sowjetischen Streitkräfte, das früher ein Sanatorium gewesen war, berüchtigte Feste. Gegenüber der Pension, auf der anderen Seite der Turmstraße,
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