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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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die Augen hinter der Vierkantbrille, um dem Attribut, das aus der Tiefe kam: seiner Stimme und der Musikgeschichte, jene träumerische Note zu verleihen, die ich von den Türmern kannte, wenn sie eine Leistung als unwiederholbar und grandios, als unrettbar in der Vergangenheit, in glänzenderen und vielleicht auch erhabeneren Epochen versunken, kennzeichnen wollten, als »ä Wunder«; und manchmal dachte ich, daß die Türmer sich auf ebenso sonderbare wie typische Weise durch die Zeit bewegten: in die Vergangenheit ging ihre Zukunft, die Gegenwart war nur ein blasses Schattenbild, eine unzulängliche und verkrüppelte Variante, ein fader Aufguß der großen Tage von einst, und manchmal hatte ich auch den Verdacht, daß es gut war, wenn etwas in die Vergangenheit sank, wenn es starb und verdarb, daß die Türmer es insgeheim billigten, denn dann war es gerettet – es gehörte nicht mehr der Gegenwart an, aus der man floh, und oft wurde genau das, war es tot, plötzlich in den Himmel ihrer Wertschätzung gehoben, was man, als es lebte, nicht einmal zur Kenntnis genommen hatte. – Die Musik scheint aus Niklas’ Fingerspitzen zu fließen, die weiß sind, weil er Handschuhe trägt; ich sehe die signierte Fotografie von Max Lorenz an der Wand über dem Klavier, mit weisendem Arm schaut der Ritter in die Ferne, schwelgend wie ein blankes Schwert ragt die Stimme, sticht zu, die Platte tanzt, schwer von Spinnweb, Funken knistern,ein gelber Magnet das Etikett in der Mitte, und ich sah Niklas, während die Musik stieg, wieder unruhiger werden, ein Mensch, für den sie Lebenselixier war, der ohne sie nicht lange zu atmen imstande sein würde, und ich dachte, was geschehen wäre, mit ihm, mit seiner Welt, wenn ein Umstand ihm den Kontakt zur Musik genommen hätte, sein Sehnsuchts-Leben, in der Musik zu sein; die Fische im Zimmer dünten auf und ab, bewegten sich wie Taschentücher auf einer windgezupften Leine, die Rose unter dem Glassturz schien erstarrt –

    Die alten Häuser mit dem angegriffenen Putz … Die Konturen begannen zu verschwinden, die Ascheloren des Lazarett-Heizhauses rumpelten; das dunkle Brummen setzte ein, dessen Herkunft er sich nicht erklären konnte, vielleicht kam es von einem Trafohaus oder einer Entlüftungsanlage; er hatte es schon oft auf seinen Abendspaziergängen gehört.
    »So spät noch unterwegs?« Es war Judith Schevola. Er war zusammengezuckt und hatte unwillkürlich einen Schritt aus dem Licht gemacht, das von einer Laterne über der Kreuzung Lindwurmring/Mondleite dünn herüberfiel. »Haben Sie mich erschreckt. – Was machen Sie hier oben?«
    »Wenn ich jetzt sagte: Ich wohne hier?«
    »– Würde ich antworten: Dann wären Sie mir aufgefallen.«
    »Aha, man kennt sich im Goldstaubviertel.«
    »Wie sagen Sie?«
    »Meine Großmutter nannte es so. Manchmal nahm sie mich bei der Hand, wir fuhren hierher, und sie sagte: Mädchen, wenn du mal groß bist, mußt du jemanden von hier heiraten. Aus dem Goldstaubviertel. Wo die Professoren, Ärzte, Musiker wohnen. Aber heute war ich nur spazieren. Ich fahre mit der Elf hoch, atme den Großkopfeten ein paar Züge ihrer kostbaren Luft weg und trolle mich wieder in mein Quartier. – Ich soll Sie grüßen.«
    »Von Herrn Kittwitz?«
    »Ihre Zunge nadelt, passen Sie beim Schlucken auf. Herr Kittwitz wohnt in Gruna. – Nein, von Herrn Malthakus.«
    »Sie waren bei ihm? Er ist schon verheiratet, soweit ich weiß«, sagte Meno mit einem Lächeln.
    »Jetzt haben Sie den typischen Ich-glaube-das-würde-sie-nichtinteressieren-Gesichtsausdruck.«
    »Und Sie den Die-Männer-sind-doch-alle-gleich.«
    »Malthakus und ich sind dabei, ein wenig Freundschaft zu schließen. Sympathischer Kauz, ich mag ihn. Er ist so genau, aber seine Uhren haben ein Herz, wenn ich so sagen darf.« Schevola suchte eine Schachtel Zigaretten hervor, bot Meno davon an. Er lehnte ab, gab ihr Feuer. »Kann ich Sie zur Haltestelle bringen?«
    »Danke, lieber begleite ich Sie noch ein Stück, wenn Sie nichts dagegen haben.«
    Er nahm es ohne Regung auf, daß Judith Schevola nun neben ihm ging, sah sich nicht um, als sie zur Kreuzung vorlief und lauschend stehenblieb, das Gesicht ihm zugewandt; obwohl er sich gern umgedreht und festgestellt hätte, woher sie so plötzlich aufgetaucht war; im Geist ging er die Hauseingänge durch, die sie passiert hatten, doch waren sie um diese Zeit gewöhnlich abgeschlossen, er hätte das Knarren einer Tür hören müssen; allerdings war er in Gedanken

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