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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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vertrauten Melodien gestreut wie ein Kobold Niespulver über einer andächtig schweigenden Kirchgemeinde fallenläßt, er mochte den Dirigenten vor sich sehen, Furtwängler, der mit dem Taktstock Wolkenzitterschrift in die geweihte, elektrisch aufgeladene, mit Violin- und Baßschlüsseln, Paukentremolos und Harfenblumen getaufte Luft über den Häuptern der gebannt auf den Einsatz wartenden Philharmoniker schrieb; der Einsatz taute aus den Schleifen, irgendwo in seinenBeschwörungen bildete sich ein Tropfen, der den Musikern in die Finger rann und den Kontakt für die bis zum Beben aufgeladenen Stromkreise schloß, das heißt: Der Einsatz wurde genommen, einer der Konzertmeister entschloß sich, ihn aus Furtwänglers Arabesken herauszulesen, ihn: zu pflücken, und er, der Konzertmeister, der wie ein Leithengst die Erstarrung durchbrochen hatte, riß die ganze Meute hinter sich mit zu gewaltig-volltönendem Akkord, das Publikum nickte ergriffen, ließ Taschentücher zu den Augen steigen, Hände die linke Seite der Brust schützen und Atem anhalten: Furtwängler! Wie hat er das wieder gemacht! Wie er das Orchester erblühen läßt, unnachahmlich, diese weich abgefederte Präzision, der Klang von strenger Zärtlichkeit, die heil’ge deutsche Tiefe! Beherrscher der Geigenbögen, Bändiger der Posaunen, Förderer der Bratsche und ihrer oft verkannten Elegien, um die Tücken des Oboen-Rohrs Wissender, um die Nöte der Hornisten, denen das Wasser im Waldhorn steigt, Furtwängler, der den Moment der Freiwilligkeit erreicht und damit den Atemzug des Orchesters, Klang entsteht: austariert mit der Feinheit einer Apothekerwaage –

    Kam Meno, mochte es sein, daß eine Unterhaltung sich entspann über das Buch, das Meno überschätzt, und Fürnbergs »Mozart-Novelle«, die er unterschätzt und besser geschrieben als das Werk des berühmteren Dichters fand. »Fürnberg«, sagte Niklas mit seiner etwas brüchigen, sonoren Stimme, »die Partei, die Partei, die hat immer recht«, und nickte sinnend. Meno schenkte ihm eins von acht Exemplaren des Büchleins, die er auf Vorrat gekauft hatte. Niklas blätterte darin, lobte die Zeichnungen von Prof. Karel Müller, Prag, konventionelle Federstrich-Vignetten, äußerte sich anerkennend zum Druck und der schönen Schwärze der edlen Garamond-Drucktype, hatte auch etwas übrig für das verschossene Grün, das als Oval den in den Leineneinband geprägten Silhouettenkopf umrahmte: Schön, sehr geschmackvoll gemacht, wirklich: edel – sie hatten Liebe für das Buch! – und hob es sich »für später« auf.

    – Jedoch, schrieb Meno, ist es Furtwängler? Türen in den Wänden des Musikzimmers (und hörte die Spieluhr: Dresden … in denMusennestern / wohnt die süße Krankheit Gestern); dort: die »Hungerbahn« nach dem Krieg, die Linie 11, wie sie den Mordgrund hinaufkeucht, beladen mit Brennholz und Pferdefutter, mit Kontrabässen für die Staatskapellen-Konzerte in der »Kulturscheune« in Bühlau, die »Hungerbahn«: wie jede ihrer Vorfahrinnen, in den Strudeln der Zeit vergangene Schattenbilder, die vom Bahnhof Neustadt mit Wäschewagen behängt den Berg hinaufsteuerten, ein müd geplagtes, unter der Last ächzendes Tier, dem der Schaffner kurz vor dem Zenit der Steigung Anfeuerungen, Flüche, Drohungen zumurmelt, mit der rechten Hand am Steuerhebel, mit der linken am Bremsrad, die Sicht eingeschränkt durch die auf dem Bugkorb verzurrten Instrumente, durch die Passagiere, die auf den Trittbrettern mitfahren, die Musiker, die sich, zur Traube geballt, ans Geländer des Bugkorbs klammern, die »Hungerbahn«, in der es nach Schweiß und dem sauren Atem aus knurrenden Mägen riecht, die auch in der »Kulturscheune« nicht schweigen werden, ein Brikett zum Eintritt, die Zuhörer, hungernd nach Kultur, ausgemergelte, von Entbehrungen gezeichnete Gesichter, drängen sich dicht aneinander, frieren in ihren Uniformmänteln, ihren vielfach geflickten, aus Lumpen oder Kartoffelsäcken genähten Hosen, den Posaunisten kippt in Bruckner-Sinfonien vor Schwäche der Atem weg; die Schallplatte brandet, Stimmen aus der Vergangenheit werden erwachen, gefleckt schon vom Rost, der über die Vinylscheibe gekrochen ist in den Jahrzehnten, die sie »bei den Schätzen« ruhte – in Nikla s’ Plattenschrank unter der gotischen Uhr, die wir so nannten, weil das Perpendikelchen in einer winzigen geschnitzten Abtsstube zu schwingen schien; »bei den Schätzen«: gehortet in Trüpels Archiv, an der Bautzner

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