Der Turm
Straße, unter dem Schallplattenladen »Philharmonia«, oder bei Däne, dem Musikkritiker am »Sächsischen Tageblatt«, der in seiner von Noten und Papier zugewucherten Wohnung in der Schlehenleite dem »Freundeskreis Musik« allwöchentlich von seinen Entdeckungen Kostproben spielte; der Rost in den Stimmen, der Rosenrost der Großen Dresdner Oper, und vielleicht ist es Schuch in meergrüner Phantasieuniform, der den Stab hebt, vielleicht sitzt Hofmannsthal im Halbdunkel einer Loge, vor der die Wirklichkeit sich bunte Kleider übergestreift hat und ein Schiff mit gelben Riesensegeln am Fenster der Kindheit vorübergleitet, wo die Schatten spielen –
»Für später«: Manchmal ging Meno dann bedrückt nach Hause, gekränkt, und beteuerte sich zum x-ten Mal, daß seine Buchgeschenke Niklas im Grunde unwillkommen waren, jedenfalls hatte Meno diesen Eindruck; Niklas schien sie nicht zu lesen, und wenn man sich wiedersah, wurde nicht darüber gesprochen. Er ist kein Buchmensch, dachte Meno auf diesen dunklen Heimwegen, ihn interessieren die Bücher nur als schöne Schauobjekte, Füllsel im Schrank, akkurat aufgereiht und hübsch anzusehen hinter Glas, und wichtig ist, daß sie gut gebunden und auf feinem Papier gedruckt sind, gediegene Umschläge haben – nicht der Inhalt. Goethe ist ihm der wichtigste, aber nur, weil er allen hier oben der wichtigste ist, und er ist ihnen der wichtigste nicht, weil sie sich mit ihm auseinandergesetzt, ihn studiert und geprüft, seine manchmal wohlfeilen Sprüchlein an ihrer Wirklichkeit und Lebenserfahrung gemessen haben, sondern weil er anerkannt ist und sanktioniert, weil er des Bürgers, der sie im Grund ihres Herzens hier oben alle sind, liebster Jasager, oberster Ratsherr, Generalissimus der Meinungen und Gemütsfürst; weil er der Prägekönig ihrer Zitaten-Münze ist. Im Grunde, dachte Meno, interessiert Niklas sich nur für Musik und für historische Aufnahmen dieser Musik. Je toter, desto besser! Und so sind sie hier oben alle, am liebsten würden sie im Alten Dresden leben, dieser fein-barocken Puppenstube und pseudoitalienischen Zuckerbäckerei, sie seufzen »Frauenkirche!« und »Taschenbergpalais!« und »Hach, die Semperoper!«, aber nie »Außentoiletten! Die herrlich cholerabefördernden Sanitärbedingungen« oder »Die Synagoge!« oder »Die befreienden Wohnverhältnisse früher, zehn Mann auf eine Mietskasernenwohnung!«, sie sagen nie »die Nazis«, sondern »die Tiefflieger«, reden vom »Morgenstern der Jugend« und »wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang Dresdens«, und dann schlug Meno vor Unmut mit der Faust gegen einen Baum. Es stimmte, und doch war er ungerecht. Wie furchtbar eitel du doch bist, dachte er. Alles, weil er dein Buchgeschenk nicht genügend gewürdigt hat, wie du glaubst! Wie wichtig du dich nimmst … Gar nicht gut, Eitelkeit schadet der Beobachtung und dient nicht der Wahrheit, pflegte Otto Haube zu sagen, wenn wir mikroskopierten. Wenn Meno den Brüdern Kaminski begegnete, grüßte er übertrieben fröhlich und kümmerte sich nicht um ihr Winken und Lächeln. Er dehnte seine Rückkehr in seine mit Schweigen und Büchern gefüllte Stube aus, machte große Umwege, um die Stunden mit Niklas – Gudrun war nur selten dabei, ebenso Reglinde und Ezzo – noch einmal aufzurufen.
– Und in Schriften über die Tiefsee, schrieb Meno , seltsame Lebewesen vor den Fenstern der Häuser erscheinen, Gempylus, der Schlangenfisch, dessen Augen Metallscheiben gleichen, die in die Fenster starren; Wesen mit blinden, milchigen Kugeln statt der Augäpfel, und langen Barten, die wie Treibhaar schweben; der Schatten des tausendarmigen Wesens, das die Tiefe grau schreibt, Architeuthis, der Riese, den Poseidon kettete und dessen saugnapfbestückte Tentakel sich wie Tamarisken um die Häuser legen, wie Efeu Putz und Ziegelwerk durchdringen, sie umarmen, um zu saugen, Jahresring um Jahresring sich dichter anschnüren, vortasten mit der gleichen Schuppe für Schuppe die Stille zu etwas anderem stauenden Intensität, mit der die Nadel herabsinkt, nachdem Niklas ein letztes Mal das gelbe Staubtuch über die Scheibe wischen ließ, dann den Hebel neben dem Balancegewicht umlegte, und ich hatte das Gefühl, gleichzeitig eine Gegenbewegung zu sehen, als ob die Nadel über der kreisenden Schallplatte die Luft, die eine Fläche gewesen zu sein schien, punktierte, zu einem Nabel vertiefte, zu einem Trichter, dessen Wände weiterwuchsen, je tiefer
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