Der Turm
die Radiernadel eines Kupferstechers Haar-Linien aus der Metallplatte graviert; wandernde Schatten über den Fotografien an der Wand des Musikzimmers im Haus »Abendstern«, wo ich zu Besuch bin; Fotos: in Schatten und Licht gebannte Zeit, das Vorkriegs-Dresden, zweite Semperoper von innen, der Leuchter scheint mit Schnee bedeckt zu sein, in den Logensitzt die Belle Epoque; dann, gerahmt und schalkhaft, die Charmeurgrübchen eingefroren im Silberbromid, Jan Dahmen, der holländische Konzertmeister der Staatskapelle Dresden; Sängerporträts, Martha Rohs und Maria Cebotari, jung und mit verklärtem Blick, Torsten Ralf im Kostüm des Schwanenritters Lohengrin, Mathieu Ahlersmeyer als Don Giovanni, Margarete Teschemacher, und alle Fotos mit Widmungen in verblaßter Sütterlinschrift, wir werden ihre Stimmen hören über der Brandung des Orchesters, den knisternden Portieren aus Staub und Vergessen, die sich über die Stunde der Aufführung gelegt haben, Musik aus den Schall-Archiven; Stimmen, Magelone im Brunnen der Zeiten; Türen öffnen sich in den verschossenen, von Rohrbrüchen wasserfleckigen Tapeten des Musikzimmers in der Heinrichstraße 10, ich erinnerte mich: Die Dampfloks im Verkehrsmuseum standen still, die Automobile und Hechtwagen und die Sänfte der Rats-Chaisenträger, Anne und ich an Vaters Hand, er sagte: Kommt, wir wollen ein wenig sehen üben; die Lokomotiven der Reichsbahn mit den leeren Kohletendern und rotlackierten Achsenrädern, Räder müssen rollen für den Sieg, die Pleuel spannen keine Geschichten mehr von Geschwindigkeit und singenden Gleisen, das Blériot-Flugzeug verstaubte in seinen Draht-Fesseln, an denen es vom Hallendach hing, schmilzt im Rauschen der Schallplatte –
Niklas Tietze war ein sonderbarer Mann. Er war Arzt, einer der seltenen Praktischen Ärzte mit eigener Praxis; sie hatte früher Dr. Citroën gehört, lag am Lindwurmring neben Bruno Korras Antiquariat »Papierboot« und der Tanzschule Roeckler. Nach Deportation, die er als einziger seiner weitverzweigten Familie überlebt hatte, und Kriegsende war Doktor Citroën zurückgekehrt, hatte Niklas als Schüler angenommen, der seinen Lehrer hochachtete und nach Citroëns Tod in der Praxis nichts veränderte, wodurch sie bald altmodisch wurde. Meno hörte ihn kaum je über medizinische Angelegenheiten sprechen. Sein Interesse galt der Musik, speziell der Dresdner Oper. Hunderte Fotos von Sängern und Musikern, viele für die stadtbekannten Musikenthusiasten Citroën und Tietze persönlich signiert, hingen in den Praxisräumen, und wie Citroën auch spielte Niklas seinen Patienten lieber Opernarien vor als sich ihreBeschwerden anzuhören. Für ihn schien die Gegenwart eine Möglichkeit unter anderen zu sein, in der man leben konnte, und nicht die angenehmste: weshalb er sie mied. Er besaß viele Bücher, sie waren meist schmal und trugen fast alle ein Schiff, das mit vollen Segeln in einem feingezeichneten Kreis fuhr und Meno zum Nachdenken anregte, wieso der Verlag, wenn er sich ein Schiff zu seinem Zeichen wählte, Insel Verlag hieß: War das Schiff die Insel? die Insel ein Schiff? bestand die Insel aus Büchern, die das Schiff als Fracht trug? Niklas stellte diese Fragen nicht, denn für ihn waren die Bücher etwas anderes als für Meno; sie waren Zeitkapseln, ihr Vorhandensein allein schien beruhigend. Niklas konnte sich abends, wenn die Uhren schlugen und es dunkel geworden war, beim Ofen im Musikzimmer auf die gelbe Récamière setzen und eins der Insel-Bändchen aus dem Schrank nehmen, der für sie reserviert war: »Mozart auf der Reise nach Prag«, mit einem Umschlag aus blaßblauen Scherenschnitten, Frakturdruck, die Seiten vergilbt und mit dem sanften Brotgeruch alten Papiers, und dann blätterte er darin und las sich hier und dort fest, nickte, rückte an der großen Brille mit den viereckigen Gläsern, murmelte geliebte und nahezu auswendig gewußte Stellen nach; niemand durfte stören, Gudrun nicht, die nebenan im Wohnzimmer saß und Leben-Jesu-Broschüren las oder fernsah, die Kinder nicht, die am anderen Ende des Flurs ihren Beschäftigungen nachgingen.
– Sann und lauschte, schrieb Meno, saß vorgebeugt, die Adlernase aus dem Dunkel geschnitten, eine Musikerhaltung, aufmerksam und zugleich abwartend, als kämen statt der innerlich vorweggenommenen und oft schon gespielten Noten andere, plötzlich aus einer Laune, die man den Dämonen der Oper zurechnen mußte, in die Partitur geschmuggelte Takte, in die
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