Der Turm
den er das Barometer gesteckt hatte, lehnte die Küchentür für Chakamankabudibaba an, kontrollierte vor dem Spiegel den Sitz der Krawatte. Nun war es still; Libussas Fernseher nicht mehr zu hören. Er nahm den Schlüssel und löschte das Licht. Als er die Türe schloß, hörte er die Zehnminutenuhr fünfmal schlagen; die Gongtöne drangen wie aus weiten Fernen heran.
4.
In der »Felsenburg«
»Die schöne, gepflegte Felsenburg, fliessend warm- und kaltes Wasser«, las er auf dem Emailschild neben dem Eingang. Brombeer- und Rosengerank warf Schatten auf den Weg, der bis zur Fleischerei Vogelsang gefegt und mit Splitt bestreut worden war.Auf der Straße standen die Autos dicht an dicht, Christian hatte sogar den Opel Kapitän des Chefarztes der Chirurgischen Klinik gesehen.
Im Vestibül mit den Tüten-Lampen stand eine Tafel auf einer Staffelei: GESCHLOSSENE GESELLSCHAFT – BITTE NICHT STÖREN der Treppe zugekehrt, die hinauf zu den Zimmern führte. Ziemlich naßforsch, dachte Christian, immerhin war die »Felsenburg« eine öffentliche Gaststätte mit Zimmervermietung, und wenn er auch aus Gesprächen seiner Eltern wußte, daß es eine unmittelbare Beziehung zwischen dem Wohlwollen des Servierpersonals, gesteigert beispielsweise durch wiederholt aufgerundete Rechnungen, und der Verfügbarkeit gewisser Restaurantplätze in Ofen- und Sichtnähe des Kellners gab, besonders jetzt im Winter, so fühlte er sich doch, während er langsam auf die Glastür des Restaurants zuging, in einen der armen Übernachtungsgäste oben versetzt, die zwar hier schlafen, im übrigen aber nicht stören durften. Basta! Aber was hatten sie zu essen bekommen?
»Ah, der Älteste vom Herrn Doktor, wenn ich nicht irre?« Ein halbes Lächeln überflog Adelings Wangen. »Aber natürlich, Sie waren doch schon einmal hier, ich erinnere mich. Sie sind aber gewachsen seither, jaja, aus Menschen werden Leute, wie man so sagt, nicht wahr. Die Feier des Herrn Vaters hat schon fast begonnen, bitte hier entlang!« Herr Adeling war hinter dem Klappbord der Rezeption hervorgeeilt und nahm gelassen Christians Garderobe entgegen. Er trug klassischen Kellnerfrack und ein Schild auf der Brust, auf dem in deutlich lesbaren Buchstaben sein Name eingraviert war. Er war gegen den Verfall der Sitten im Gastgewerbe. Eine Freundin Reglindes lernte bei ihm, von ihr wußte Christian, was das für die »meiner Op-hut anvertrauten Zök-linge« bedeutete. Daß er nur an solchen Stellen sächselte, an denen noch jede echte Sachsenzunge, die sich auf das Glatteis des Hochdeutschen gewagt hatte, hoffnungslos gescheitert war, mochte dem Umstand zuzuschreiben sein, daß Adeling noch an sich »arr-beitete«, wie Reglindes Freundin verständnisinnig zu berichten gewußt hatte. Seiner Frisur und seiner Sprechweise wegen hieß er bei den Lehrlingen »Theo Lingen« – auch Herr Adeling liebte es, die Lippen zu spitzen, die Hände zu faltenund, nachdem er knapp auf den Absätzen seiner tadellos blankgewienerten Schuhe gewippt hatte, mit anmutig rudernden Armen und leicht schräggeneigtem Kopf durch den Saal zu gleiten. Das Schild mit dem BITTE NICHT STÖREN mochte für ihn, der »auch nur ä K-lied in der Kette« war, wie er sagte, zu den Umständen gehören, die zum Verfall der Sitten im Gastgewerbe beitrugen.
Christian betrat das Restaurant, als die Regulator-Uhr an der Rezeption sechs schlug. Herr Adeling folgte ihm und blieb mit zusammengelegten Händen bei der Tür stehen. Alle Köpfe wandten sich nach Christian um, der spürte, wie er rot wurde und sich unwillkürlich kleiner zu machen versuchte. Er ärgerte sich. Er hatte gezögert und Menos Schreibtisch betrachtet, um den anderen keine Zeit zu lassen, ihn anzustarren – und jetzt geschah genau dies, eben gerade dadurch, daß er »über Punkt« kam, und er fühlte die Blicke der vielen Menschen im Raum peinigend auf sich. Ohne jemand Bestimmtes anzusehen, mit gesenktem Kopf, nickte er einen Gruß zu der im Geviert aufgestellten Tafel, an der vierzig oder fünfzig Gäste sitzen mochten. Rechts entdeckte er Familie Tietze, Meno daneben, Onkel Ulrich und seine Frau Barbara, Alice und Sandor. Anne saß neben dem Vater und dem Chefarzt der Chirurgischen Klinik an der Stirnseite der Tafel. Auch Großvater Rohde und Emmy, Christians und Roberts Großmutter väterlicherseits, konnte er entdecken, als er, immer noch puterrot und mit vor Scham gerunzelter Stirn, zu den Sitzenden hinschielte. Hätte es eine Möglichkeit gegeben,
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