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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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sie mit fester Stimme erklärt, daß es offenbar doch einige Schüler in der 10b gebe, die etwas bei ihr gelernt und die ORCHIS-Regel bis zu einem gewissen Grade verinnerlicht hätten … Leider hatte Fräulein Schatzmann das Bild der nackten Blonden konfisziert – »das, meine Herren, fällt unter Nummer Zwo meiner Regel!« –, sehr zum Leidwesen Holger Rübesamens, der es gegen zwei Fußballbilder von Borussia Dortmund teuer eingetauscht hatte …
    »Ich hab’ Hunger!« flüsterte Ezzo. »Dauert das noch lange?« Aber Müller schien in Fahrt gekommen zu sein, sprach mit weitausholenden Bewegungen, trat vor und zurück, schrieb Skizzen in die Luft, ließ die Uhu-Brauen hüpfen und tupfte den Siegelring an die Lippen, wenn er Lachen erntete.
    »Wann sind wir eigentlich dran?« flüsterte Christian zurück.
    »Deine Mutter gibt uns ein Zeichen.«
    »Und die Instrumente?«
    »Sind nebenan.«
    »Ich seh’ kein Klavier.«
    »Guck mal scharf an deinem Onkel vorbei.« Richtig, in der Ecke hinter Meno stand ein Klavier.
    »Jetzt konnte ich mich gar nicht einspielen, so ein Mist aber auch, daß ihr alle schon dagesessen habt, ich dachte, es gibt erst das übliche Blabla, und dann läuft das so langsam an …«
    »Das spielst du doch vom Blatt, Christian. Aber denk’ dran, sforzato auf A, wenn Robert das zweite Mal einsetzt. Hab’ ich einen Knast, und da drüben gibt’s so schöne Sachen …« Ezzo nickte in Richtung des Kalten Büfetts, das an der Wand gegenüber aufgebaut war.
    »Was denn? Hast du’s schon gesehen?«
    »Lecker, kann ich dir sagen! Lendensteaks, ganz dünn geschnitten und knusprig gebraten, man sieht das Waffelmuster des Rosts noch, und daneben Reis«, Ezzo wies verstohlen auf drei große, mit blinkenden Edelstahlhauben abgedeckte Schüsseln, »– aber nicht Wurzener Kuko-Zeugs, sondern bestimmt von drüben!« »Du hast schon gekostet?« wisperte Robert, der sich etwas zurückgebeugt hatte, hinter Christians Rücken Ezzo zu.
    »Hm. Ja.«
    »Ach so …? Hast du vorhin nicht gesagt, du müßtest mal austreten?«
    »Psst, nicht so laut … War ich ja auch … Aber als ich zurückkam, war gerade keiner da, und dann hab’ ich die Obstschale entdeckt, guckt mal so ’ne Fingerbreite rechts an meinem Vater vorbei, dann seht ihr sie … Seht ihr sie?«
    »Die große blaue da?« flüsterten Christian und Robert wie aus einem Mund.
    »Genau … Äpfel und Birnen sind da drin, richtig gelbe Birnen mit so ganz kleinen hellgrünen Tüpfelchen drauf, und Apfelsinen –«
    »Grüne Kuba-Krätzer?«
    »Nee, eben nicht … Nafel, oder so. Mandarinen und Pflaumen und, ja genau: Bananen! Richtige Bananen!« Ezzos Stimme zitterte.
    »Christian, das Paket von drüben, das wir geschleppt haben letzte Woche, das haben die Alten schon geschlachtet, jede Wette!«
    »Vielleicht haben ja auch Tante Alice und Onkel Sandor das mitgebracht …«
    »Wäre möglich, stimmt … Und was hast du noch gesehen? Sag’ mal«, Robert beugte sich noch ein Stück zurück, er hatte ziemlich laut gesprochen, so daß Christian den Zeigefinger an die Lippen legte und dem Bruder ein »Psst!« zuzischte, »– sag’ mal, hast du bloß geguckt, oder hast du …«
    »Nee, hab’ ich nicht, die Zeit war doch viel zu kurz, bloß die Reiskörner, und dann war ja auch gleich Theo Lingen da und hat mich von oben bis unten angeblitzt wie ’nen Verbrecher, ehrlich, Robert!«
    »Wie geht’s in der Spezi?«
    Ezzo besuchte die Spezialschule für Musik auf der Mendelssohnallee. »Na, wie immer. Schule ist öde. Bloß Physik macht Spaß, haben wir bei Bräuer. Den müßtet ihr kennen.«
    »Wieso?«
    »Doch, klar, Robert, das war der strenge, der vor zwei Jahren bei uns war. Der so’n bißchen wie Onkel Uhu aussieht, von Pittiplatsch und Schnatterinchen.«
    Ezzo griente. »Ja, der. Ist aber Spitze. Tolle Versuche macht er. Und sonst … Es wird Weihnachten.«
    »Und Wieniawski?«
    »Sauschweres Stück. Erinnere mich jetzt bloß nicht daran. Dienstag hab’ ich wieder Hauptfach, muß noch viehisch rabotten.« – »… vom Vater hab’ ich die Statur, des Lebens ernstes Führen, vom Mütterchen die Frohnatur, und vom Fromme – nicht nur – die Lust, zu operieren …«, deklamierte Müller gerade und heimste Beifall ein. »Ich hoffe, daß die Fachleute im Publikum mir diese Entstellung des berühmten Goetheschen Verses verzeihen, es geschah, das darf ich zu meiner Verteidigung anführen, zum guten Zweck. Aber lange Rede, kurzer Sinn, wo ich doch beim

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