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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Wostok und German Titow, ich nicht, ich war ja schon zu alt, wenngleich meine Frau immer sagt, daß mir das Training in Baikonur nebst Anchovispaste aus der Tube«, er blickte an sich herunter und breitete in gespielter Verständnislosigkeit die Arme, »nichts geschadet hätte, das aber sieht sie, wie ich glaube, allzu einseitig aus der Perspektive der Diätköchin.« Müllers Frau, die neben Anne saß, warf verlegene Blicke in die Runde und errötete hinreichend. Wernstein, einer der Assistenzärzte der unfallchirurgischen Klinik, beugte sich grinsend zu einem Kollegen hinüber und flüsterte ihm etwas zu.
    »Ah«, rief Müller mit ironischem Unterton in der Stimme und streckte theatralisch den Arm aus, »wenigstens die Assistenten vertreten den Standpunkt, daß ich ein Nachgeben gegenüber den Bestrebungen der Lachmuskeln nicht als Mißachtung odergar Verspottung meiner körperlichen Verfassung interpretieren würde, mutig, meine Herren! Danke. Nun, andere unter uns wollten vielleicht einmal Atomforscher, ein zweiter Winnetou oder, meine Damen, eine zweite Florence Nightingale werden, doch als die Jahre ins Land gingen, waren die Elementarteilchen und der Kampf um die Rechte des Apachenvolkes vielleicht nicht mehr so interessant. Die Chirurgie aber, der Jugendtraum unseres Jubilars, ist für ihn immer interessant geblieben, nie hat er, das weiß ich von ihm selbst, das Ziel, Chirurg zu werden, aus den Augen verloren seit jenem Aufenthalt im Krankenhaus. Er besuchte die Oberschule in Freital, absolvierte eine Schlosserlehre und begann danach das Medizinstudium in Leipzig, an der altehrwürdigen Alma mater lipsiensis, die ja für einige unter uns die Pflanzstätte, um den alten, gut preußischen Ausdruck zu gebrauchen, ihrer medizinischen Laufbahn gewesen ist. Dort, in den unvergeßlichen anatomischen Kollegs von Kurt Alverdes und später dann im Collegium chirurgicum Herbert Uebermuths, bestätigte und festigte sich sein Entschluß, Chirurg zu werden. Dennoch hätte der große Kliniker Max Bürger seinen Entschluß beinahe ins Wanken gebracht und uns eines unserer besten Unfallchirurgen, die wir im Lande haben, beraubt, als er nämlich auf Richard Hoffmanns außergewöhnliche klinisch-diagnostische Begabung aufmerksam wurde und ihm anbot, bei ihm zu dissertieren. Nicht, daß unser Jubilar der Chirurgie innerlich wirklich untreu geworden wäre. Es waren vor allem Nachwirkungen der beim Angriff auf Dresden zugezogenen Verletzungen, die ihn schwankend werden ließen; denn Verwachsungen an der rechten Hand erschwerten den Faustschluß, machten ihn zeitweilig unmöglich – für jemanden, der ins operative Fach strebt, ist das natürlich eine Bedrohung grundsätzlicher Natur. Erst eine Nachoperation bei Leni Büchter, einer wahren Zauberin der Handchirurgie, und die aufopfernde Pflege einer gewissen Schwester Anne, geborene Rohde«, er verneigte sich leicht in Richtung Annes, die zur Seite blickte, »beseitigten dieses Hindernis und gewannen Richard Hoffmann endgültig für unser Fach …«
    »Mensch, kann der Girlanden schwingen!« flüsterte Robert Christian zu. »Dem müßte ich mal meine Deutschaufsätze zumKorrigieren geben, ich glaube, was dabei rauskäme, wäre was für Fräulein Schatzmann.« Fräulein Schatzmann war Deutschlehrerin an der Allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschule »Louis Fürnberg«, die Robert besuchte. Sie wünschte ausdrücklich mit »Fräulein« angesprochen zu werden, obgleich sie kurz vor der Rente stand. Auch Christian war bei ihr, bis zum Eintritt in die Erweiterte Oberschule in Waldbrunn, Schüler gewesen, und konnte sich an Fräulein Schatzmanns strengen Unterricht voller verzwickter Grammatik-Übungen und schwieriger Diktate mühelos erinnern. Schaudernd dachte er an die Schatzmannsche ORCHIS-Regel, die sie jedesmal, wenn ein Aufsatz anstand, mit roter Kreide in die Mitte der Wandtafel geschrieben hatte, den nachlässigen und vergeßlichen Schülern ins Gedächtnis: Ordnung – Risiko – Charme – Inhalt – Sinn; bis Christian einmal, auf einen gewissen Verdacht hin, im Medizinischen Wörterbuch des Vaters nachgesehen und daraufhin, vor dem nächsten Aufsatz, gemeinsam mit anderen Streichemachern der Klasse, das Foto einer nackten Blondine nebst einer ziemlich eindeutigen Zeichnung an die Wandtafel geklebt hatte … Fräulein Schatzmann hatte unerwartet reagiert; der gespannt wartenden Klasse – einige Mädchen kicherten natürlich und hatten heiße Köpfe, wie immer – hatte

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