Der Turm
unsichtbar die Strecke bis zu dem freien Platz zwischen Ezzo und Robert, am Ende der Tafel, zurückzulegen, und auf dem Stuhl ebenso einfach wie plötzlich und von niemandem weiter bemerkt zu erscheinen – er hätte sich dieser Möglichkeit ohne zu zögern bedient. So war er dem untersetzten, wohlbeleibten Chefarzt Müller dankbar, daß er in diesem Moment aufstand und mit einem Löffel gegen das Weinglas tippte, das vor ihm stand, worauf sich die Köpfe der Anwesenden wandten. Ezzo hatte inzwischen behutsam den Stuhl nach hinten gehoben; Christian, auf dessen Gesicht die Röte langsam nachließ, setzte sich aufatmend und hängte, da er Annes mißbilligenden Blick sehr wohl wahrgenommen hatte, den Beutel mit demBarometer umständlich und übertrieben zur Seite gebeugt über die Stuhllehne, und was er mitnahm ins Abwenden, war der Ausdruck leiser Ironie in Menos Augen, denn Meno hatte ihm erst neulich vom Verhalten des Vogels Strauß erzählt: »Er steckt den Kopf in den Sand und wartet, da er glaubt, daß niemand ihn sehen könne. Denn er kann ja auch nichts sehen. Aber das«, hatte Meno hinzugefügt, »ist nichts für den Staatsbürgerkundelehrer, Christian. Vergleiche zwischen Tier- und Menschenwelt sind nur bedingt zulässig, so wahr ich Biologie studiert habe.«
Professor Müller war einen Schritt zurückgetreten, hielt den Kopf gesenkt, so daß die Doppelkinne über den Kragen seines blütenweißen Hemds quollen, und rieb sich, wozu seine uhuartig starken schwarzen Brauen hüpfende Bewegungen vollführten, nachdenklich die Wangen, die so glattrasiert waren, daß sie wie Speck glänzten. Die Manschette, die gegen den nachtblauen Anzug kreidig abstach, verrutschte und gab ein Büschel kräftigen schwarzen Haars frei, das sich bis auf den Handrücken und die untersten Fingerglieder fortsetzte. Am kleinen Finger der Rechten trug Müller einen Siegelring. Er hatte ein Stück Papier aus der Tasche gezogen, offenbar das Konzept einer Rede, hatte einen flüchtigen Blick darauf geworfen und steckte es nun mit einer desinteressierten Geste wieder ein. Dabei blieb es hängen, wie eine Klinge stak es mehrere Zentimeter aus der Anzugtasche heraus, so daß Müller mit einem zarten, doch bestimmten Fingerschnipp nachhelfen mußte. Er räusperte sich, tupfte mit dem Siegelring die Oberlippe.
»Verehrter Jubilar, verehrte Gattin, Angehörige, Kollegen und Gäste. Schon Goethe sagte, daß die Fünfzig im Leben eines Mannes ein Datum von besonderer Bedeutung sei. Man zieht Bilanz, hält Rückschau, blickt auf das Erreichte, bedenkt das zu Erreichende. Die Periode des Sturm und Drang ist vorüber, man hat seinen Platz im Leben gefunden. Fortan ist, wie mein verehrter Lehrer Sauerbruch zu sagen pflegte, mit kontinuierlicher Zunahme nur bei einem Organ zu rechnen: der Vorsteherdrüse. Ausnahmen«, er streckte die Hand aus und ließ sie in der Luft abtropfen, »bestätigen natürlich, wie immer, die Regel.«
Chirurgenlachen: Platzhirschgebrüll; die Ehefrauen senkten die Köpfe.
»Die Damenwelt möge mir diesen kurzen Ausflug in urologische Gefilde verzeihen – Chirurg, bleibe bei deinem Leistenbruch, wie schon Hippokrates sagte.« Er nickte der Ärztegruppe zu und tupfte sich mit dem Siegelring wieder die Lippen. »Sie werden bemerken, verehrte Kollegen, daß ich das Prinzip Absicherung schon beinahe so weit treibe wie die lieben Kollegen von der Inneren Medizin.« Spott huschte über die Gesichter einiger Ärzte. Christian hatte schon oft als Hilfspfleger in Krankenhäusern gearbeitet und wußte von den Besonderheiten, die es zwischen den beiden größten Fachrichtungen der Medizin gab. Müller wurde ernster.
»– In Glashütte, einem Städtchen im Osterzgebirge, als ältester Sohn eines Uhrmachers geboren, wuchs Richard Hoffmann in der Zeit des Hitlerfaschismus auf und erlebte als zwölfjähriger Junge, er war Helfer in einer Flakbatterie, den angloamerikanischen Angriff auf Dresden mit. In der Bombennacht erlitt er schwere Phosphorverbrennungen und mußte danach lange im Johannstädter Krankenhaus, der heutigen Medizinischen Akademie, behandelt werden – in der gleichen Klinik übrigens, die er heute leitet. In dieser Zeit reifte sein Wunsch, später einmal Medizin zu studieren. Nun ist es ja so, daß solche Jugendträume oft nicht verwirklicht werden, ich erinnere mich zum Beispiel, daß vor zwanzig Jahren«, er runzelte die Stirn und spitzte die Lippen, »alle Jungens auf einmal Kosmonaut werden wollten, Gagarin und
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