Der Turm
Ein Kessel zischte, eine Tür schlug zu, sonst blieb es ruhig.
Der Scheinwerfer tastete sich zurück, fräste einen Tunnel aus greller Helligkeit ins Dunkel, walzte über die Garagendächer, fuhr jäh in die Baumkronen, weißte die Mauer wie ein systematisch vorgehender Maler die Wände eines Zimmers, ruckte plötzlich hoch, kehrte in unberechenbaren Schwenks zurück; Meno und Schevola hoben vorsichtig die Köpfe, als der Lichttunnel sich entfernte.
»Haben Sie gesehen?«
»Ja«, murmelte sie. »Kehren wir um.«
29.
Kupfervitriol
– Die Schallplatte dreht sich wie eine Schiffsschraube, der Dampfer Tannhäuser legt ab, nimmt mich mit in die Zeiten (und hörte die Spieluhr: Dresden … in den Musennestern / wohnt die süße Krankheit Gestern), auf dem Deck Kapitän Tenkes und Sindbad, Osceola und Vier Panzersoldaten und ein Hund, Filme, die wir im Rundkino sahen, im Faun-Palast, in der Schauburg in der Neustadt, wo es nach Alaun gerochen hatte, wo der Chlorodont-Dunst aus dem Leo-Werk sich mit den Schokoladenaromen aus den Fabriken an der Königsbrücker Straße mischte; die Flüche der Kutscher mit dem Mißmut unverstandener Geister (»Soll ich Ihnen sagen, was Dresden ist? Dieses Emirat des Bohnerwachses und der Gummibäume?«), Kinos mit abgeschabten Sesseln und Vitrinen mit Filmplakaten und aus dem »Eulenspiegel« ausgeschnittenen Kritiken, die nur ich studierte, während Niklas nichts als eine wegwerfende Handbewegung dafür übrig hatte und die Jungs: Christian, Robert, Ezzo, Fabian, sich schon in die Schlange vor dem Kinosaal stellten, sie kannten alle diese Plakate, Belmondos Boxergesicht und die anziehende, kalte Verderbtheit in der Schönheit Alain Delons, die lauernde, bullige Korrektheit Lino Venturas, die zu Kommissaren paßte, denen man früher, als sie noch keine Kommissare gewesen waren, sondern auf dem Höhepunkt biederer Verbrechen standen, ein Angebot gemacht hatte, Menschen, die das Rauchen nicht lassen können, weil sie Dinge gesehen haben, für die ihr Scheitel, ihr Angestellten-Staubmantel, ihre Aktentasche nicht ausreichen; sie wissen es ohne Illusionen, daß die Vergangenheit sie einholen und eine Rechnung präsentieren wird; sie wissen, daß man die liegengelassenen Träume, auch wenn sie unverändert warten, auch wenn man das Jackett ausziehen, sie anfassen, nach dem Punkt suchen kann, wo man unterbrochen wurde, nicht zu Ende führen wird; Kinos, wo es Vorfilme gab und der DEFA-Augenzeuge an uns vorüberflimmerte, eine schwarzweiße Sonne, früher die UFA-Wochenschau und andere Menschen in den Kinos, zu denen die Wortschmiede sprachen, sie schienen ein Gesetz zu vertonen, diese Stimmen im Olympia-Tonbildtheater, im Capitol auf der Prager Straße, in den Stephenson- und UT-Lichtspielen, dasGesetz, daß die Welt in Freund und Feind geteilt sei auf ewig, daß es Befehl und Verrat, Sieg und Niederlage gebe immerdar, und daß das Licht beim Volke sei, der Kreuzer Tannhäuser fuhr hinaus, Funkpeilungen und Lichtsektoren suchen im nachtdunklen Meer, Villen unterm Sowjetstern, wo die toxischen Rosen wuchsen und Schlaf, und brauner Schnee sank auf die Stadt und saurer Regen von den Braunkohle-Heizwerken, Leim kroch im Fluß vom Zellstoffwerk, und Pittiplatsch winkte vom Fernsehturm, und Sandmann streute Vergessen, die »Bols«-Ballerina tanzte zur Gesellenhochzeit im Schlachthof, zu Drehleier-Volksliedern und Hackbrett-Geklirr, und »Seychscherb« riefen sie neben der Blutrinne, der Bolzen steckte noch im Kopf der zappelnden Sau, und »Bruntzkachel« an der dampfenden Tafel, wo der Meister nach altem Brauch die Kesselgrütze mit Kanonenkugeln würzt; Fiedel und Brummtopf auf dem Titanic-, Panik-Deck (und hörte die Spieluhr: Dresden … in den Musennestern / wohnt die süße Krankheit Gestern) … eine Betäubung, vielleicht war es das, Niklas saß reglos vor dem Plattenspieler an den Abenden, wenn der Schnee sank oder das Licht eines Sommertags den Birnbaum vor dem Fenster zum Glimmen brachte, ich hatte das Gefühl, daß die Musik ihn gleichzeitig leersog und mit der köstlichen Substanz des Vergessens füllte, die Schallplatte war eine Spindel, deren Nesselfäden ausflogen und sich mit feinen Widerhaaren in ihm festfischten, bei jeder Drehung sich haltbarer garnten und sein Inneres hinüberzogen: wohin? nach dort, nach dort … Ich fragte mich, wie es möglich war, daß ein Mensch so in der Vergangenheit leben, die Gegenwart mit einer inneren Handbewegung beiseite zu wischen vermochte – ich
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