Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
handeln, durch den weiter vorn der Kuckuckssteig von Arbogasts Chemischem Laboratorium hinab zur Bautzner Straße und zum Mordgrund lief. Fabian Hoffmann, der Sohn des Toxikologen aus der Wolfsleite, hatte ihn mit seiner Bande, zu der auch Ina Rohde und Fabians Schwester Muriel gehörten, ausgekundschaftet, er hatte Meno von verwitterten Statuen erzählt und von einer Mauer aus undurchdringlichem Gestrüpp, verwilderten Heckenrosen, die den Kuckuckssteig vom Wald des Chemischen Instituts abgrenzten. Schevola drehte sich gegen die Mauer und hustete unterdrückt. Der Nebel quoll wie feuchte Watte aus dem Eingangstor des Laboratoriums, das wie am Haus Arbogast aus einem kunstvoll gearbeiteten schmiedeeisernen Greif bestand, hier überwölbt von einem gelbschwarzgebänderten Stahlbogen. Meno wunderte sich, wie die Anwohner bei diesem Gestank das Fenster offenlassen konnten, sie mußten unempfindliche Nasen haben oder waren Schlimmeres gewöhnt. Schevola spähte durch das Tor. »Niemand zu sehen. Am besten da«, sie wies auf das Ende der Sackgasse, wo neben einigen Garagen Müllcontainer standen, »wenn wir die an die Mauer rollen, müßten wir’s schaffen.« Sie stand bis zu den Knien in dem gelblichen, jetzt nach Fischsuppe stinkenden Nebel, auf ihrem Gesicht lag ein zugleich gieriger und wacher Ausdruck, den sie in Menos Blick gespiegelt wiederzuerkennen schien: der Ausdruck verschwand sofort, es war, als ob sie ihn fallengelassen und einem feinen, raschen Radierstift überlassen hätte. »Sehen Sie mal.« Sie hielt den Zeigefinger hoch und präsentierte Meno einen schwarzen Klecks auf der Kuppe. »Wofür halten Sie das? Teer?«
    Er prüfte den Klecks, dessen Schwärze glänzend war, zwischen Daumen und Zeigefinger, die Substanz war nachgiebig wie die Knete, mit der er in der Schule Kosmonauten und Jungpioniere geformt hatte, die Hündin Laika in der Raumkapsel, den Panzerkreuzer »Aurora« nach einer Vorlage aus der »Komsomolskaja Prawda«. Als Meno den Klecks an der Mauer abwischte, hinterließ er einen schwarzen Striemen. »Pech«, sagte er und versuchte den Striemen mit dem Schuh zu verwischen. »Und Vorsicht, davon scheint’s noch mehr zu geben.« Er zog Schevola vom Stahlbogen weg. Über die züngelnd geschmiedeten Greifenfedern tropfte das Pech, zog Fäden, wenn es niedersank vom Schnabel, der wie eine triefende, kieloben liegende Gondel wirkte, zum Hals und zu den Löwenklauen, füllte die Lücken im Geflecht der Schwingen, bildete Zöpfe, die auf dem Boden im schwindenden Nebel zu Pechpfützen zerliefen, die Kontakt gewannen, kurz verharrten, als müßten sie sich verständigen, dann ineinanderglitten und in ständiger unruhiger, wie suchender Bewegung schienen, gespeist von der Torwölbung, aus der die schwarze Masse jetzt in großen, lange sich dehnenden, weich abreißenden Placken schlackte. Schevola blickte auf ihre Schuhe, runzelte die Stirn, sah Meno mißmutig an.
    »Nun?« sagte er, »wir sollten uns beeilen.«
    »Hm«, erwiderte sie.
    »Sie haben wohl plötzlich keine Lust mehr?«
    »Meine schönen Schuhe … echte Salamander, die waren teuer! Judith, du bist …« Sie gab sich eine leichte Ohrfeige. »Soviel dazu. Die sind nun einmal versaut, weiter geht’s.«
    »Sie schaffen das?«
    »Jetzt klingen Sie wie Ihr Chef. Fehlt nur noch der Spiegel und der Kamm.« Sie blies amüsiert Luft durch die Nase aus. Mit der schmiegsamen Behendigkeit einer Katze war sie auf dem Garagendach. Meno las einige Kiesel auf und kam nach, auch bei ihm war nichts zu hören, was sie mit einem leisen Pfiff durch die Zähne quittierte: »Ehrlich gesagt wollte ich Sie das fragen; ich scheine Sie unterschätzt zu haben.« Sie preßte sich flach auf das Dach und starrte in die Dunkelheit vor ihnen.
    »Achtung«, warnte Meno, sie schoben sich in Deckung hinter einen Baum, der den Rand des Daches erreichte. Ein Scheinwerfer flammte auf, suchte das Gelände ab, sie drückten sich in den Stammschatten, als das Licht an ihnen vorüberstrich.
    »Über den Baum kommen wir wieder ’raus«, flüsterte Schevola. »Untenbleiben.«
    Meno warf einen Kiesel, als sich seine Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten. »Wenn sie Hunde draußen haben, müßten sie kommen«, flüsterte er. Sie warteten. Nichts geschah. Er konnte nichts hören außer dem entfernten Brummen und den Geräuschen der Ascheloren vom Heizhaus des Lazaretts; die Radiomusik war verstummt.
    »Die schmeißen ihre Asche einfach den Berg runter«, flüsterte Schevola.

Weitere Kostenlose Bücher