Der Turm
Deutschland plazieren konnte, Kante auf Kante, Knick auf Knick, dann Niklas mit dem schmaleren Sächsischen Tageblatt, Schneider Lukas und Frau mit den Sächsischen Neuesten Nachrichten, Herr Richter-Meinhold mit der noch schmaleren, rotköpfigen Jungen Welt; ein Kilogramm Zeitungen; hammer alles? fragte Witwe Fiebig, zählte nachdenkend Finger ab, während Herr Adeling Kellnerhandschuhe überstreifte, den Papierstoß ausrichtete, verschnürte, den Stapel zwischen Daumen und Zeigefinger anhob und zum Fenster schritt, das Witwe Fiebig öffnete, Herrn Adelings ausgestreckter Arm, die weißbehandschuhte Linke, das Paket waren in der beginnenden Dämmerung über dem Lindwurmring zu sehen, mit an den Fingerspitzen zusammengelegten Händen und leicht geneigten Köpfen warteten die Versammelten auf den Schlag von Witwe Fiebigs Standuhr, gong gong, achtzehn Uhr, beim letzten Schlag schnappten Herrn Adelings Finger auseinander, der Zeitungsstapel klatschte in die geöffnete Mülltonne vor dem Haus, Witwe Fiebig zog das Tischtuch ab, Herr Adeling deutete eine Verbeugung in Richtung der Nachbarn an, klopfte die Handschuhe sauber, bevor er sie an den Fingerspitzen lüpfte und entfernte, folgte Witwe Fiebig und den anderen zum Händewaschen, schenkte Likör ein und wandte sich der Geometrie der Kuchenstücke auf dem Meißner Teller zu, der unter einer Glasglocke auf dem Vertiko schimmerte, tarierte sie mit einem Silberschäufelchen aus; Herr Sandhaus holtedas Lesepult (»echt Biedermeier!«) hervor, wartete auf Witwe Fiebig, die eine Spitzendecke auflegte; sie öffnete den Löffler und sagte mit der silbenmeißelnden Betonung des Dresdner Bürgertums, mit der es Verachtung von Wertschätzung, Niederes von Hohem, Müll von Rosen trennt: ßo. Unt jet-zt. KOMMEN wir. Zur Kul-tuhr.
– Tannhäuser-Karavelle, Tannhäuser-Funk, Echolote in die Zeit, schwarzgelb die Schallplatte Spindel,
Winter 1978/79: In der Johannstadt fallen die Zentralheizungen aus und drohen unter dem strengen Frost zu platzen, man spottet über die Zuversicht, die aus den Schwarzweißgesichtern in den Zeitungen glänzt, flucht über den Subbotnik, die gemeinnützige Arbeit am Sonnabend. Brigaden der Freien Deutschen Jugend rücken in Lausitzer Tagebaue aus und helfen NVA-Einheiten, Kohle für Dresden heranzuschaffen.
»Drei Waggons sollen die haben. Die sollen vorfahren sollen. Extra zum Beheizen des Kulturpalasts. Wissen Sie was Neues, Herr Tietze, Sie sind doch dabei?« Herr Sandhaus reibt sich die Hände. »Hab’ ich doch tatsächlich noch zwee Karten erwischt!«
Niklas beugt sich über den Tisch, hebt den Löffel über Schwarzwälder Kirsch und flüstert: »Böhm wird dirigieren, sein erstes öffentliches Auftreten mit der Staatskapelle hier seit ’43. Welche Blamage, wenn die es nicht fertigbringen, den Kulturpalast zu heizen!«
– Eisblumen wuchern über die Treppen. Schlaf. Schlaf im Winter, der kalte Schlaf vor den kreisenden Schallplatten, auf denen der Rauhreif knistert. Lampen raspeln, alt sind sie, aus Vorkriegszeiten, die Leitungsdrähte morsch und oxydiert, in manchen Häusern der Neustadt läßt man die Glühbirnen brennen, denn vielleicht springen sie nicht mehr an, wenn man sie ausschaltet, flackerndes Funzellicht im Winter, und das Schnarren der Heizlüfter, mit Gußeisen umkleidete Würfel, in denen sich ein zur Schlange gewundener Draht bis zum Glühen erhitzt, später gibt es die orangefarbenen Heizsteller aus Ungarn in den Badezimmern, den Küchen, den nach Asche riechenden Bücherzimmern der Stadt.
– Hinaus fuhr Tannhäusers Schiff,
und Herr Richter-Meinhold, ein hagerer Mann in den Siebzigern, ehemals Produzent von Wander- und Landkarten (gelb-rote Umschläge, das Papier auf Leinen gezogen, Geographien, über dieman in der Schule nichts hörte: Hultschiner Ländchen, Isergebirge), die wie Schätze gehütet wurden und in keinem Antiquariat lange vorrätig blieben, erst recht nicht, wenn sie das Gebiet der DDR zeigten (»sin’ de eenz’schen, die ni’ gefälscht sint, niwahr!«); Herr Richter-Meinhold hob die Hand (diese Dresdner Geste, dieses »so isses leider, wir könn’s ni’ ändern, ’s geht ähm alles dahin«) und sagte: »Eine Kälte ist das, wie damals, beim Angriff. Übrigens, Herr Tietze, ist Hauptmanns Spätwerk voller verborgener Smaragde. Nicht unbedingt Diamanten. Aber Smaragde. Den Erhart Kästner, seinen Sekretär, habe ich ja noch gekannt. War Bibliothekar im Japanischen Palais und hat hier oben gewohnt.
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