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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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sah eine äußere nicht, Niklas stellte sich nicht vor mir auf und hob den Arm zu einer theatralischen Verdammung all dessen, was in Licht und Schatten unseres Tages lag und was wir zum Jetzt zusammenfaßten –, eine Handbewegung, die ein brüskes Nein war, geführt mit jener unnachsichtigen Wut, mit der ein erwachsener Mensch vor seiner Angst kapituliert; wie er dieses Jetzt für nicht existent erklären konnte – war er ein Narr, der ein Abkommen getroffen hatte und es bezahlen würde, und bis dahin konnte er machen, was er wollte: manchmal dachte ich, er sei der Herrin der Uhren begegnet, und sie habe ihm ein Ziffernblatt bestimmt, das anders ging als die, welche sie uns zugeteilt hatte … aber was wollte er dort, in derVergangenheit? Was war sie ihm? Was war sie den Türmern? War er anwesend, wenn ich an ihn dachte, bei ihm zu Besuch war, ihn mir vorstellte, wie er nachts allein im Musikzimmer saß und den Opernstimmen lauschte aus verschollenen Aufnahmen, die er bewahrte und vielleicht noch Trüpel oder Däne, und vielleicht noch der eine oder andere, von dem wir noch nichts wußten (aber eines Tages würde er zu Dänes »Freundeskreis Musik« stoßen, so mußte es kommen, und Däne ahnte, daß es diese noch unentdeckten Connaisseure gab, deshalb setzte er gern spezielle Aufnahmen, seltene Einspielungen, verborgene Werke auf die Agenda seiner Treffen, um sie zu ködern), und wenn Niklas vom Lindwurmring nach Hause ging, die zerschlissene Hebammentasche in der Hand, die Baskenmütze schräg über Scheitel und Wange gezogen, wie er würdevollen Schritts, leicht mit der anderen Hand wippend (nachklingende Takte einer Aufführung?), eine strenge Versunkenheit auf den Zügen näher kam, noch ohne mich wahrzunehmen, dann dachte ich: Ja, das ist er, einer von hier oben, ein Türmer: die von der Vergangenheit wie von einem Gelobten Land sprachen, sich mit ihren Insignien, heraldischen Erkennungszeichen, ihren Karten und Fotografien umgaben; was war sie ihnen? Ein Sternbild von Namen, eine Milchstraße von Erinnerungen, ein Planetensystem Heiliger Schriften, und die heiligste davon, die Sonne, hieß DAS ALTE DRESDEN, geschrieben von Fritz Löffler (und hörte die Spieluhr: Dresden … in den Musennestern / wohnt die süße Krankheit Gestern) … und erinnere mich an Abende im Haus Zu den Meerkatzen: Man trat durch die zerkratzte Schwingtür des Eingangs, lief über abgetretene, von der Zeit zur Farbe siechendes Rosenholz gebleichte Spannteppiche, die an den Seiten ausgefranst waren und Herrn Adelings tägliches Mißfallen erregten, an Kübelpflanzen auf den Etagenkehren vorbei, die mich an die jahrzehntelang in Formalingläsern schmollenden, nikotingelben Kraken zoologischer Sammlungen erinnerten, betastete bröckelnden, mit Szenen aus den »Meistersingern« verzierten Putz, hatte sich an die mit Ankerplast geklebten Scheiben in den Etagen-Flurtüren gewöhnt – und geriet vor einen Zeigefinger, fischblaß und arthroseknotig, über den sich ein Verschwörerlächeln schob: »Herr Rohde, kommen Sie herein, wir gucken ’s uns gerade an!« Auf damastgedecktem Tisch, auf geschnitztem, mit Nußöl blankpoliertem undpenibel trockengeriebenem Lesepult lag es und breitete seine Papierschwingen wie Engelsflügel aus: das Buch; kommt und labt euch, die ihr mühselig seid, und seid geborgen in der Unverrückbarkeit meiner Wohnung, kommt und genest. Aufgeschlagen: der Zwinger, Fotografie des Mathematisch-Physikalischen Salons. »Er entstand 1711 bis 1714, als frühester der Pavillons M. D. Pöppelmanns während des Reichsvikariats Augusts des Starken, wie das Auftreten des Reichsadlers im Schmuck des Giebelfrieses beweist.« Zuerst brüchige, dann von Kaffee mit Sahne, Kirschlikör und Eierschecke gefestigte Vorlesestimmen, Zeigefinger, die die Zeilen entlangrutschten, Fingernägel, die sich in einzelne Buchstaben bohrten, über dem Papier auf- und niederteleskopende Lesegläser: »Beweist, Herr Rohde, hören Sie: be-weist! Sie erinnern sich unserer kleinen Diskussion hier im Kreise über diese Thä-matik! Herr Tietze und Herr Malthakus waren auch da und meiner Meinung, während Sie, Herr Pospischil, doch nicht ganz das richtige getroffen haben, wie wir sehen.« Herr Sandhaus führte die Zunge zwischen die Zähne, ein leise fletschendes Geräusch ertönte, ließ seinen Oberkörper eine leichte Drehung nach links vollführen, wo Ladislaus Pospischil, geborener Wiener, gestrandet in den Wirren eines wirren Jahrhunderts in Dresden,

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