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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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wußte, ob man sich freuen oder fürchten sollte, und warum ein Brief, nichts als ein Stück Papier, soviel wiegen konnte.
    Er las den Brief nicht noch einmal durch, er kannte ihn fast auswendig. Warum kommst du nicht, warum meidest du mich, warum weichst du mir aus, wenn ich dich sehen möchte und wir uns in der Akademie begegnen, Lucie fragt nach dir, auch wir haben ein Recht auf dich, wir sind auch deine Familie, ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte, irgendwann wirst du dich entscheiden müssen, oder hast du schon genug von uns, von mir, ist das jetzt dein »Zigarettenholen«?
    Richard ging in die Klinik zurück. Er hatte eine Operation angesetzt und Patienten in die Handambulanz bestellt. Nach der Operation ging er auf Station, um einen Kaffee zu trinken und etwas zu essen. Seine Sekretärin war noch da. »Gehen Sie nach Hause«, sagte Richard, »die OP-Berichte können Sie auch morgen schreiben.«
    »Frau Fischer aus dem Rektorat hat angerufen. Sie meldet sich noch mal.«
    »Bin nicht da.«
    »Es wäre wichtig. Es geht um Doktor Wernstein.«
    »Ich bin in fünf Minuten in der Handambulanz. Dann soll sie mich meinetwegen dort anrufen.« Die Handambulanz war vollbesetzt, und er ließ das Telefon klingeln. Er hätte es ignoriert, aber die assistierende Schwester nahm ab. »Für Sie.«
    »Richard, können wir uns sehen? Hast du meinen Brief gelesen?«
    »Schönen guten Tag, Frau Fischer, was gibt’s denn?«
    »Kann ich auf dich warten, vor dem Rektorat, heute? Das fällt weniger auf als im Park, wenn man uns sieht«, sagte Josta rasch, vielleicht erwartete sie Einwände, die er in der unter Floskeln verborgenen Geheimsprache vorbringen würde, die sie sich für Telefonate in Gegenwart anderer ausgedacht hatten; »es ist im Moment ein bißchen ungünstig« hieß »20 Uhr, an dem von dir angegebenen Ort«.
    »Es ist im Moment ein bißchen ungünstig –«
    »Oder du kommst zu mir? Du kannst doch sagen, daß es in der Klinik länger gedauert hat.«
    »Könnten Sie mich morgen noch mal zurückrufen? Danke.« Das hieß: Nein. Er legte auf.

    Es war immer noch hell, als Richard die Klinik verließ. Er hatte sich langsam umgezogen, obwohl es auf 20 Uhr ging, als er den letzten Patienten aus der Ambulanz verabschiedete; er hatte sogar überlegt, sich zu rasieren, hatte den Apparat aber wieder in den Spind gelegt, als ihm eingefallen war, daß ein langer Arbeitstag und ein nach Rasierwasser duftendes glattes Kinn in einem Zweifel und neuerliches Mißtrauen weckenden Widerspruch standen. Er erkannte Josta schon von weitem, sie stand auf einem der von Forsythien gerahmten Wege neben der Augenklinik und unterhielt sich mit einigen jüngeren Ärzten, die die Bäuche einzogen. Es machte ihn wütend, daß sie sich nicht an die Abmachung hielt, daß diese Ärzte sie und vielleicht auch ihn beobachten würden, zugleich fühlte er den jähen Stich von Eifersucht, als er sah, wie sie kokett mit ihrem Pferdeschwanz spielte, lachte, den Kopf zurückwarf, wie zufällig, wenn einer der Ärzte beim Sprechen auf den Zehen wippte, an dem Forsythienzweig roch, den sie in der Hand hielt. Natürlich hat sie mich schon längst gesehen, dachte Richard, und nun macht sie mir klar, daß es sie bloß einen Fingerschnipp kostet. Josta löste sich und ging, etwa fünfzig Meter vor ihm, auf dasRektoratsgebäude zu, sie trug ein leichtes Kleid und hatte ihren Mantel über den Arm gelegt. Er wußte, daß er dieses Bild für immer im Gedächtnis behalten würde: eine junge Frau in der Windstille eines Maiabends, die hin- und herstreichenden Falten ihres Kleids, ein verlangsamter Augenblick in der schwimmenden Helligkeit der übrigen Passanten.
    »Warum kommst du so spät? Warum läßt du mich warten? Weißt du überhaupt, wann wir uns das letzte Mal gesehen haben?«
    »Du sollst mich nicht in der Klinik anrufen.«
    »Ist es zuviel verlangt, wenn ich dich sehen möchte?«
    »Josta … man weiß von unserem Verhältnis. Ich werde erpreßt. Man will uns auffliegen lassen, wenn –«
    »Wer ist ›man‹?«
    »– wenn ich nicht mit denen zusammenarbeite.« Er schluckte, atmete hörbar aus. »Berichte schreiben, Informationen sammeln.«
    Sie runzelte die Stirn und sah an ihm vorbei. Er beobachtete sie aus den Augenwinkeln und war erstaunt, daß sie so ganz anders reagierte als Anne; ein zwischen Hochmut und Kälte pendelnder Ausdruck lag auf ihrem Gesicht, als hätte sie dergleichen weniger erwartet als erhofft, als hätte sie es, dachte er

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