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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Weiß kein Mensch mehr.«
    »Nee.«
    »Hauptmann bin ich noch begech-net. Meine Tante lag nämlich im Sanatorium Weidner, von wo er den Angriff gesehen hat. Ich habe sie besucht und dabei ihn gesehen. Unvergeßlich, der Goethe-Nischel.«
    »Wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang Dresdens.« Sandor, aus Ecuador zu Besuch, beim Untergang zehn Jahre alt, schweigt, wendet sich ab. Sie erinnern sich. »Das war alles mal ganz anders hier. Was ist, ist nicht, was war. Kein Vergleich. Nee, nee. Heute: Dresdengrad. Provinz in der UddSR: Union der deutschsprachigen Sowjetrepubliken.« Ruinen stehen seit Jahrzehnten. Elektrifizierung plus viele Brachflächen, häßliche Magistralen, zugige Plattenbaugebiete, Fünfzehngeschosser, wie grobe Klötze eingerammt in die berühmte, jetzt lückenhafte Canaletto-Silhouette. Und früher: »Warn wir Residenz. Residenz! Tscha, früher …« Sie seufzen. Fotos werden herausgesucht. Blick von der Brühlschen Terrasse zur Frauenkirche, eine Laterne mit nadeligem Licht in der Münzgasse. Die Beschwörungen beginnen, die Dresdner Sehnsucht nach Utopie, einer Märchenstadt. Die Stadt der Nischen, der Goethe-Zitate, der Hausmusik blickt trauernd nach gestern; die leidige, ausgehöhlte Realität wird mit Träumen ergänzt: Schatten-Dresden, Schein hinter dem Sein, fließt durch dessen Poren, erzeugt Hoffmannsche Zwitter. Doppelbelichtungen. Tannhäuser sang, sang vom Armeemuseum, wo die Zündnadelgewehre auf Napoleon wiesen, und Sachsens Glanz und Preussens Gloria, Ulanenlanzen und Kürassierhelme derBelle Epoque (und hörte die Spieluhr: Dresden … in den Musennestern / wohnt die süße Krankheit Gestern), Lemuren im Gaskrieg der Schützengräben tappten, Blaukreuz Ypern, die Sappeure tanzten, Verdun, Doktor Benn ging durch die Morgue, Dix malte Vieh in Menschengestalt, und das zersplitterte Glas über dem Foto der alten Frauenkirche, Dresden … »Ich werde dieser Perle die rechte Fassung geben« … Die Synagoge brannte.
    – Wie trinkt man den Wein zu Dresden, der Stadt mit dem schuldigen Lächeln? Hinaus fuhr Tannhäusers Schiff, zu Canalettos Archipel … Glocken läuten am 13. Februar. Aus allen Stadtteilen strömen die Menschen in die Innenstadt, stellen Kerzen auf an der Ruine der Frauenkirche, zwei große Trümmer, die sich wie Arme hilfesuchend zum Himmel recken. Der Kreuzchor singt Mauersbergers Requiem. Nachtfahrt nach Hause, in Hoffmanns Lada oder Tietzes Shiguli: Der über die Armatur zuckende rote »Woda«-Anzeiger ist in der Perspektive so groß wie die Birke auf der düster liegenden Schloßruine und scheint wie eine Phosphornadel unruhig die in die Tiefe gestaffelten rußigen Mauerreste abzutasten, die bei Tag noch Zimmerfluchten, eingebrannte Linien von Malereien erkennen lassen.
    »Der Riesensaal im Schloß, was gab es da für herrliche Konzerte. Und Königs haben vom Schwanenservice gegessen, an einer Tafel mit tausend Teilen feinstem Meißner Porzellan«, erzählte Frau von Stern, die ehemalige Hofdame. »Lüster, die wie Lichtkorallenriffe herabhingen! Sie stürzten herunter, Glasklumpen am Boden, zusammengeschmolzen über Menschen, die Gesichter, die Gesichter.«
    »Elbflorenz, so italienisch weich, eine lächelnde Stadt!«
    »Und die soziale Lage? Wie lebte man damals wirklich? Eine schöne Fassade für viel Elend? Gab es nicht 100 000 Arbeitslose 1933? Waren die Mörder nicht unter uns?«
    »Ach, Schluß! Hätteter de Nazis nich gewählt, würd’s immer noch lächeln.«
    »Du bist kein richtscher Dresdner, wenn du so was sagst, du liebst deine Stadt nicht!«
    »Liebe heißt für dich beschönschen? Hör mir uff! Manschma denk ich, ihr braucht das ä bissel, ihr wärt im Grunde gar ni klücklisch, wenn’s alte Dräsdn off äma wieder da wär!«
    »Mit dir red’sch kee eenzsches Wort mehr!«
    – Wer spricht? Sie sprechen, die Türmer, in den Soiréen, und Witwe Fiebigs Rosen blühten, dufteten nach Staub, Kölnisch Wasser und Möbelpolitur, blankgeputzte Silberlöffel tauchten in die Eierschecke der Konditorei Wachendorf, draußen wuchsen die Eisblumen, krochen über den Fluß und die Treppen und die Uhren; die Türmer saßen abends in ihren Wohnungen und erzählten, sie erzählten von ihren Leuchtern, die sie auf Dachböden oder in vergessenen Kisten (»irschendwo in dor Prä-rieh«) gefunden hatten, verrußt und unansehnlich, für den Laien – aber in ihren Augen sofort die Ziselierungen wert, die nach vorsichtigem, ahnungsvollem Reiben zum

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