Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
ist sie Schriftstellerin geworden! Wissen Sie, wie viele Entwürfe Tolstoi zu seinen Arbeiten gemacht hat? Tolstoi! Und Fräulein Schevola und Sie faseln von ›das Buch zerstören‹ …« Es klopfte. »Herein!« brüllte Schiffner. Frau Zäpter erschien in der Tür, klein und verängstigt. »Barsanos Büro läßt ausrichten, daß es heute neunzehn Uhr beginnt.« Schiffner nickte und wischte Frau Zäpter mit einer groben Handbewegung hinaus. »Josef, was sagst du dazu?«
    Josef Redlich senkte den Kopf und drehte nervös einenKugelschreiber zwischen den Fingern. »Aber es ist die Wahrheit, Heinz. Es ist nun einmal zu diesen … Vorfällen gekommen, das wissen wir alle, das wissen die Freunde zuallererst –« Schiffner schnitt Josef Redlich das Wort ab: »Wahrheit! Als ob es in der Literatur um Wahrheit ginge! Romane sind keine Philosophieseminare. Romane lügen immer.«
    »Da bin ich nicht deiner Ansicht«, wagte Josef Redlich einzuwenden. »Du kennst meine Meinung: Literatur, die vor der Wirklichkeit kapituliert, ist keine, sondern Propaganda. Wir machen keine Propaganda, Heinz. Rohde hat mir das Manuskript gegeben, ich stimme ihm zu. Wir kastrieren das Buch ohne diese Stelle. Und es ist nicht mehr die Zeit des elften Plenums.«
    »Das ist offensichtlich auch Ihre Meinung?« Schiffner beugte sich zu Stefanie Wrobel, die seinem Blick auswich. »Ich kenne ja nur diese Stelle, nicht den Zusammenhang –«
    »Ich habe dir doch das Manuskript gegeben«, sagte Meno erstaunt.
    »Ich bin noch nicht dazu gekommen. Herr Eschschloraque hat Priorität.«
    »Gut, versuchen wir es«, lenkte Schiffner ein. »Aber auf deine Verantwortung, Josef. Ich mache meine Einwände geltend, wenn die Hauptverwaltung anruft und es Schwierigkeiten gibt. Ich beuge mich der Mehrheit meiner Lektoren. Aber ich sage euch beiden gleich«, Schiffner stützte sich auf den Tisch und fixierte abwechselnd Josef Redlich und Meno, »es ist euer Hintern, der brennt. Natürlich hat es das gegeben, wovon Fräulein Schevola meint berichten zu müssen. Aber die Frage ist, wem das nützt, wenn sie davon berichtet! Dieses Land hat es schwer genug, ebenso geht’s den Freunden, und da kommt die mit diesen ollen Kamellen! Mein Gott, wer hat denn den Krieg angefangen! Das ist die Gegenrechnung, und die jammert rum, bloß weil ein paar Nazi-Weiber –«
    »Es waren nicht nur Nazi-Weiber«, sagte Meno noch leiser. »Sie schildert ganz normale Leute.«
    »Halten Sie doch Ihren Mund, Rohde. Genau diese von Ihnen so bezeichneten ›ganz normalen Leute‹ waren es doch, die Dreiunddreißig die Nazis gewählt haben! Sie haben Sturm gesät und wundern sich, daß ein Orkan zurückgekommen ist! Schon weilIhr Einwand möglich ist, müßte man die Szene streichen. Aber gut, ich habe euch gewarnt. – Ich möchte drei Außengutachten, dann muß das vorab ins Ministerium, ich möchte eine Übersetzung für die Freunde, und die geht auch vorab raus. Heute abend ist Berichterstattung über den Kongreß. Herr Rohde, Sie schreiben das bitte noch einmal und zeigen es mir dann.« Er ging zum Schreibtisch und gab Meno das Referat zurück, die Seiten waren voller Korrekturen in roter Tinte.

    In der Mitte der Brücke nach Ostrom blickte Meno zurück: Eine gelbliche Dunstglocke hing über der Stadt, gespeist vom Rauch aus Fabrikschornsteinen; die Konturen von Vogelstroms Haus und der emporkriechenden Standseilbahn flimmerten in der Luft; der Elbhang trieb wie eine von Rosen zugewucherte Insel in der beginnenden Dämmerung. Moderduft wehte herüber, vielleicht kam der Wind von Arbogasts Chemischem Institut. Am Oberen Plan wartete Judith Schevola. Sie erzählte Meno vom Abend im Tausendaugenhaus und in der »Paradiesvogel«-Bar, und er ließ sie reden; er war in Gedanken schon bei Barsanos Empfang, der in Block D stattfinden würde, im Karl-Marx-Weg; es war der Sitz der Parteileitung, das ehemalige Schloß eines enteigneten Wettinerprinzen, der Schneckenstein. Judith Schevola schwieg und musterte Meno mit verstohlenen Blicken, Josef Redlich und Schiffner hätten die Situation ausgekostet und sie noch ein wenig auf die Folter gespannt; Meno mochte sie nicht, diese Machtspielchen mit Autoren, kleine Racheakte derer, die im Hintergrund standen und unbeachtete, wenig gedankte Kärrnerarbeit leisteten; er erzählte ihr vom Gespräch im Verlag.
    »Drei Außengutachten«, sagte Schevola nach einer Weile leise, »und eine Übersetzung für die Russen … Das dauert ewig. Dann ist das Buch tot, das

Weitere Kostenlose Bücher