Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
noch mehr. Meine Schwester war noch im Kindergarten, als wir zurückkehrten. – Können Sie Russisch?«
    »Nur das Schulpensum, Nina Nina tam kartina … und ein bißchen was ist hängengeblieben von Reisen. – Warum?«
    »Weil da oben«, er wies auf das Schloß, »manchmal nur Russisch gesprochen wird. Fast alle von Barsanos Leuten sind ehemalige Moskauer, und ihre Kinder lassen sie in Moskau zur Schule gehen und studieren.«
    »Die rote Aristokratie«, sagte Schevola. »Die im Westen gehen nach Paris und London und New York, die hier gehen nach Moskau. Paris … Das ist die Stadt, in der alle Frauen Handschuhe und weiße Kleider mit schwarzen Punkten tragen. Naja. Muß das herrlich sein, von seinen Klischees kuriert zu werden. Ich möchte trotzdem mal hin.«
    »Sie wären vielleicht enttäuscht.«
    »Ja, die Trauben sind bestimmt sauer. Ich will aus einem einzigen Grund dorthin. Simenon läßt in seinem Roman ›Der Mann, der den Zügen nachsah‹ Kees Popinga, die Hauptfigur, einen Brief an den Kommissar schreiben: ›… er hatte absichtlich Papier mit dem Briefkopf des Lokals benutzt‹. Da gibt es also Lokale, die eigenes Briefpapier haben! Das finde ich wunderbar. Es klingt so selbstverständlich … Als ob es dort oft vorkäme, daß man in Lokalen Briefe schreibt.«
    »Sie sind eine Schwärmerin und ziemlich vertrauensselig«, warnte Meno lächelnd. »Sie wissen nicht, wohin ich gehöre.« »Nein, das weiß ich nicht«, erwiderte Schevola nach einer Weile.
    Das Schloß war ein Bau von kastellhaftem Klassizismus; das Hauptgebäude flankiert von zwei achteckigen Türmen, auf dem linken Turm wehte die Sowjetfahne, auf dem rechten die der Arbeiter- und Bauernmacht. Meno und Judith Schevola gingen über den mit Kies bestreuten Platz vor der Eingangshalle; ein Lenin-Kopf aus rötlichem Hartgestein lag wie ein Meteorit in der Ebene; das Tatarengesicht starrte mit feinem Lächeln in die Parkbäume; Schevola konnte es sich nicht verkneifen, mit dem Knöchel dagegenzuklopfen. »Massiv«, sagte sie erstaunt.
    »Was dachten Sie denn«, sagte Meno noch erstaunter, »stellen Sie sich mal vor, das würde hohl klingen.«
    Sie warteten im Foyer. Die verstaubten Messingzeiger auf der Deckenuhr klackten auf sieben. Max Barsano hörte man schonvon weitem lachen, sofort lockerte sich die Gruppe der Wartenden, bekamen die Blicke der Genossen Generalsekretäre auf den beiden fenstergroßen Porträts an den Schmalseiten der Halle etwas Aufmunterndes. Barsano blieb am Treppenfuß stehen, überflog die Anwesenden mit einem raschen Blick, traf eine Entscheidung und trat mit einem »Entschuldigt, Genossen« auf Judith Schevola zu, faßte ihre Rechte mit beiden Händen. »Bist ja gezaust worden, hab’ ich gehört«, sagte er mit voluminöser Baßstimme zu ihr, die nicht zu seinem zarten Körper passen wollte, »macht nichts! Dann taugt’s was! Schreib mal weiter, aus Kindern werden Leute, und du bist jemand, der das Zeug hat, eines Tages unsere großen Alten abzulösen.« Damit ging er an Meno vorbei zum Autor Paul Schade, der seine Orden aus dem antifaschistischen Widerstandskampf stolz auf der Brust seines Anzugs trug, und zu Eschschloraque, der dünn lächelte und beim Händeschütteln vornehm andeutend den Kopf senkte; Schiffner, den Barsano dann begrüßte, stand verlegen nach diesem im Foyer widerhallenden Lob, Josef Redlich mit im Gesicht glänzender Freude. »Heben Sie jetzt bloß nicht ab«, knurrte der Autor Paul Schade, Verfasser des revolutionären Poems »Brülle, Rußland«, von dem bedeutende Auszüge in den Schullesebüchern sämtlicher sozialistischer Bruderländer mit Ausnahme der UdSSR standen, »mit Ihnen befassen wir uns noch!« Schade bekleidete einen hohen Posten im Verband der Geistestätigen, er maß erst Schevola, dann Meno mit einem drohenden Blick. Barsano wandte sich den beiden Londoners zu, Vater und Sohn; Philipp im eleganten cremefarbenen Sommeranzug, noch mit Hut auf dem zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haar, was sich wahrscheinlich nur er hier erlauben konnte: »Na, Herr Professor«, rief Barsano vergnügt, »morgen schick’ ich dir mal meinen Friseur vorbei! Im Krieg hättste deine Pracht voller Läuse gehabt! – Sind eben junge Leute«, sagte er zu seinem Stellvertreter Karlheinz Schubert, der alle Anwesenden um mindestens einen Kopf überragte und in der leicht gekrümmten, achthabenden Haltung zu groß gewachsener Menschen nach Barsano die Honneurs machte. Der klopfte dem Alten vom Berge auf

Weitere Kostenlose Bücher